Schnitt: Psychothriller
Therapien sind besser als ihr Ruf. Inzwischen macht man das sehr erfolgreich bei manisch-depressiven Patienten, ganz selten noch bei Schizophrenie. Damals war man allerdings weniger zimperlich. Da wurde noch ohne Betäubung geschockt.«
»Was sollte diese Quälerei denn bewirken?«
»Durch die StromstöÃe werden Impulse gesetzt, das Gehirn wird gewissermaÃen kräftig durchgeschüttelt und kann sich danach neu ordnen, neuronale Verknüpfungen können sich neu bilden. AuÃerdem hat es den Nebeneffekt, dass die Patienten ruhiger werden.«
»Dr. Dressler hat die Wahnvorstellungen meines Bruders mit Elektroschocks therapiert?«
»Gabriels angebliche Wahnvorstellungen. Keiner hat daran gedacht, dass diese Wahnvorstellungen Flashbacks sein könnten. Erinnerungsblitze an etwas, das tatsächlich geschehen ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist Gabriel weder paranoid noch wahnhaft gewesen. Er hatte ein tiefes Trauma durchlitten, das so furchtbar war, dass er einen GroÃteil dieser Nacht verdrängt hat. Und einige Jahre später kamen dann, meistens in irgendwelchen Situationen mit Schlüsselreizen, die Erinnerungen als Flashbacks oder Intrusionen zurück.«
»Intrusionen?« David runzelt die Stirn.
»So etwas wie ein Flashback, aber während bei einem Flashback die Bilder eher wie ein wirrer Film ablaufen, werden bei einer Intrusion dieselben Gefühle wachgerufen, die man in dem traumatischen Moment erlebt hat. Man durchleidet alles wieder und wieder, ganz unmittelbar.«
»Das hört sich grauenvoll an«, sagt David.
»Oh, das ist es. Das ist es. Und jetzt stellen Sie sich vor, Ihr Bruder hat gerade einen solchen Flashback â oder eine Intrusion â und wird postwendend mit Elektroschocks therapiert.«
»Was glauben Sie, hätte das bewirkt?«, fragt David leise.
»Ich würde sagen, das ist ein Paradebeispiel für negative Konditionierung. Gabriel hat einen Flashback, bekommt einen Elektroschock, und sein Gehirn speichert ab: Immer wenn ich mich an damals erinnere, werde ich mit Elektroschocks bestraft. Der Verstand reagiert darauf ganz pragmatisch. Er verdrängt einfach alles. Kurz gesagt: Gabriel hatte keine Wahnvorstellungen, er hat sich erinnert .
Er hätte Hilfe gebraucht â und alles, was er bekommen hat, waren Botschaften wie: âºDu bist verrücktâ¹, âºdu bist gefährlichâ¹, âºdu bist falschâ¹. Das ist der sicherste Weg, jemanden in den Wahnsinn zu treiben. Vermutlich hat ihn das den letzten Rest Erinnerung an die Ereignisse dieser Nacht gekostet.«
David starrt Irene Esser an. »Was ⦠was heiÃt denn das jetzt alles?«
»Nun«, sagt Dr. Esser ruhig, »das heiÃt, dass Ihr Bruder sehr viel normaler ist, als alle denken. Er ist sehr sensibel, sehr intelligent, nimmt oft Dinge wahr, die andere nicht sehen. Auf seine Mitmenschen mag das oft seltsam wirken. Wenn so jemand sich dann noch etwas verschroben verhält und Schwierigkeiten im sozialen Kontakt hat â was ja bei Ihrem Bruder durchaus der Fall ist â, dann wirkt das schnell wie eine ausgewachsene Paranoia, oder platt gesagt, als wäre der Betroffene verrückt.«
»Also hat man ihn vollkommen zu Unrecht in die Psychiatrie gesteckt?«
»Im Mittelalter hat man schon aus geringeren Anlässen Frauen als Hexen verbrannt. Aber das ist natürlich alles relativ. Man wusste einfach nicht, was mit Ihrem Bruder los war. Jedenfalls ist er vermutlich falsch therapiert worden.« Ihre kalten braunen Augen ruhen auf David. »Zumindest wenn man davon ausgeht, dass die dokumentierten Flashbacks echte Erinnerungen sind.«
»Also würden Sie sagen, dass er unseren Vater erschossen hat?«, fragt David verwirrt.
»Er hat geschossen. Ich bin fest davon überzeugt, dass er geschossen hat. Das ist die einzig mögliche Erklärung für all das. Die Frage ist nur, warum und auf wen hat er geschossen.«
»Gibt es denn eine Chance, dass er sich irgendwann daran erinnert, oder sind die Erinnerungen ganz gelöscht?«
Dr. Esser wiegt ihren Kopf. »Ja und nein. Das Gehirn verhält sich da in etwa wie eine Festplatte. Die Daten sind zwar gelöscht, aber nicht überschrieben, sie sind nur gewissermaÃen unsichtbar. Man kann sie also grundsätzlich wieder aktivieren.«
»Und wie?«
»Genau da fangen die Probleme an.«
Kapitel 38
Nirgendwo â
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