Schnitt: Psychothriller
zieht er das Ungetüm in den Keller und späht zur Tür hinaus.
Alles ist ruhig.
Er schaltet seine Taschenlampe ein. Der mit ND -Folie gedimmte Lichtkegel strahlt verhalten. Leise schlieÃt er die Tür, lehnt sich von innen dagegen und sinkt zu Boden.
Der stabile Jackenärmel ist zerfetzt, der Arm darunter blutverschmiert. Die Fangzähne sind tief ins Fleisch eingedrungen, aber immerhin, die Jacke hat ihn vor Schlimmerem bewahrt. Rasch zieht er sein Unterhemd aus und wickelt es straff um die Wunde. Seine Finger zittern, für einen Moment schlieÃt er die Augen, atmet mehrmals langsam aus. Sein Puls beruhigt sich spürbar, und er versucht, sich zu konzentrieren.
Der Rottweiler muss weg.
Für den Fall, dass jemand den Hund vermisst und Verdacht schöpft, soll er wenigstens nicht direkt im Keller über den Hundekadaver stolpern.
Mühsam schultert Gabriel das stinkende Ungetüm. Seine lädierte Schulter und die Bisswunde jagen brennendes Benzin durch seine Nervenbahnen. In einem Busch, unter einer mächtigen Buche, legt er den Rottweiler ab, etwa hundertfünfzig Meter entfernt vom Gebäude. Die schweren Wolken zerreiÃen, und der Wind frischt auf. Um keinen Hinweis auf einen Einbruch zu hinterlassen, zieht er den Pick aus dem Auge des Kadavers. Flüssigkeit sickert aus der Wunde und glänzt fahl im Mondlicht.
Dann beseitigt er die Kampfspuren im Keller mit dem Innenfutter seiner Jacke und reinigt die Sohlen seiner Schuhe.
Fertig.
Gottverdammt, was tust du hier, Luke?
Das weiÃt du nur zu gut.
Ich schon. Aber du nicht. Sieh dich an, du zitterst wie ein Kind.
Halt endlich den Rand.
Du bist auf dem besten Weg zurück in die Anstalt, ist dir das klar?
Hörst du schwer?
Wie viele Menschen, glaubst du, lesen ihre eigenen Behandlungsakten? Und vor allem: Was meinst du wohl, was passiert, wenn man im eigenen Irrsinn wühlt? Glaubst du, dir gefällt, was du da findest?
Gabriel antwortet nicht. Ihm bricht der Schweià aus, trotz der kühlen, muffigen Kellerluft. Im Flur hinter dem Lagerraum tastet er mit dem fahlen Taschenlampenkegel die Wände ab. Sechzehn Türen, acht auf jeder Seite. Er geht systematisch vor. Das Knacken der Türschlösser beruhigt ihn.
Im neunten Raum stöÃt er auf eine braune Wand aus Umzugskartons. Als er den Deckel des ersten Kartons aufklappt, wirbelt ihm Staub entgegen. Sein Herz schlägt schneller. Vor ihm liegen dicke Ordner, alle mit Namen beschriftet. Dankwart, Dellana, Demski â¦
Ich bitte dich, Luke, hör auf!
Seit wann bittest du?
Sieben Kartons später ist er bei »N« angelangt. Seine Finger tasten über die Ordner. Nächster Name. Nein. Nächster Name. Wieder nein. Und dann: Naumann, Gabriel.
Der Staub tanzt chaotisch im Kegel der Lampe, ein Schwarm Glühwürmer über einer grellen Insel. Sein Puls galoppiert, während seine bebenden Finger den Ordner hervorziehen.
Ich hab dich gewarnt. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Luke!
Nenn mich nicht so. Du machst mich irre.
Ich? Dich?
Gabriel klappt den Deckel zurück und blättert. Diagnosen, Berichte, Gutachten, Schreiben vom Jugendamt, wieder Berichte und zahlreiche Transkripte der Tonbandaufnahmen von seinen Sitzungen mit Dressler. Fachbegriffe huschen vorbei wie Gespenster. Schizophrenie, Sedierung, Krampftherapie. Sein Kopf glüht plötzlich fiebrig. Haldol, Dapotum D, Dormicum, Noctamid â die Psychopharmaka kommen ihm vor wie alte Bekannte, die er längst vergessen hatte und die jetzt plötzlich wieder vor ihm stehen. Niemand hatte ihm oder den anderen Patienten je gesagt, welche Medikamente und welche Dosis man ihnen einflöÃte. Es wurde gespritzt und basta. Weil er sich oft wehrte, fixierten sie ihn. Wenn er nicht fixiert war und sich zur Wehr setzte, hatte er blaue Flecken von den Einstichen. Einmal brach eine Nadel in seinem Oberarm, danach benutzten sie bei ihm extradicke Nadeln.
Unwillkürlich reibt er sich den Arm. Der Biss des Rottweilers brennt. Unbeirrt blättert er weiter.
Naumann, Gabriel. 07. 05. 1986, 03:20 Uhr. Patient aufsässig, rebelliert, hat zum wiederholten Mal schwere Wahnvorstellungen. Für Diagnostik angeordnete Tonbandaufnahme durchgeführt. AnschlieÃende Fixierung, sofort eingeleitete Krampftherapie zur neuronalen Umstrukturierung. Patient angemessen ruhig, leicht verwirrt.
Gabriel starrt auf das vergilbte Blatt Papier. Ihm ist, als ob der Staub wie
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