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Schnitt: Psychothriller

Schnitt: Psychothriller

Titel: Schnitt: Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Raabe
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stehen. Der Blick der Frau bohrt sich in seinen, als gäbe es ein Fenster zu seiner Seele, das sie in diesem Moment aufstößt. Plötzlich muss er an Liz denken, obwohl die schwarzhaarige Frau nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihr hat. Er schließt für einen Augenblick die Lider. Als er sie wieder öffnet, ist der Moment vorüber.
    Gabriel starrt auf das Sims und das blanke Glas des Fotos. Eigenartig, denkt er. Kein Staub? Blankes Glas? Auch der Staub auf dem Kaminsims ist verwischt, als hätte jemand die Fotos beiseitegeschoben. Gabriel bückt sich und sieht in die Feuerstelle. Eine große schwarze Marmorplatte steht mitten auf dem Feuerrost und ist an die Rückwand des Kamins gelehnt. Seltsam.
    Er richtet sich auf und betrachtet den Abzug. Auf Kopfhöhe, knapp über dem Sims mit den Fotos, hängt ein Bild, das wie die Möbel mit einem Laken verhängt ist. Vorsichtig, mit den Fingerspitzen, nimmt er es vom Haken. Dahinter ist eine Vertiefung, aus der offensichtlich die Marmorplatte im Kamin stammt und in der jetzt eine graue, glatte Safetür aus Metall das Licht seiner Taschenlampe reflektiert. Sie misst etwa vierzig mal dreißig Zentimeter und hat einen Schlüsselschlitz in der Mitte.
    Mit spitzen Fingern tippt Gabriel gegen den Safe. Ein leises Klonk ertönt, und die Tür bewegt sich, vielleicht ein oder zwei Millimeter, mehr nicht.
    Er schiebt die Fotos auf dem Sims beiseite, dann zieht er mit dem Fingernagel die Metalltür auf und sieht ins Innere des Safes. Gähnende Leere. Entweder ist er die ganze Zeit leer gewesen, oder der Einbrecher hat gefunden, was er gesucht hat.
    Gabriel schließt den Safe wieder, hängt das Bild zurück an seinen Platz und widersteht der Versuchung, sein Handy aus der Jacke zu holen – auch wenn es gerade vermutlich zwölf Uhr ist.
    Er dreht sich um, geht zurück in den Hausflur, sorgsam darauf bedacht, die Fußspuren des Einbrechers nicht zu verwischen, geht um die massive alte Holztreppe herum und steht jetzt an der Schwelle der Kellertreppe, einer langen, schnörkellosen Reihe von Holzstufen. In der Dunkelheit des Kellerflures blinken mehrere rote Punkte. Für einen Augenblick überkommt ihn das gleiche beängstigende Gefühl, das ihn schon damals immer überkommen hatte, wenn er an der Schwelle der Kellertreppe in seinem Elternhaus stand. Das irrationale Gefühl, da sei etwas, das auf ihn warte. Er lässt die Taschenlampe hinab ins Dunkel blitzen und kann den zentralen Schaltkasten der Alarmanlage mit seinen roten Lämpchen erkennen.
    Okay. Runter, die Alarmanlage zurücksetzen, das Haus verriegeln und ab nach Hause, denkt Gabriel. Eine Aussage bei der Polizei kann er auch am nächsten Tag noch machen. So, wie es aussieht, ist der Einbrecher ohnehin längst über alle Berge.
    Er macht einen Schritt die Treppe hinab, als er plötzlich mit dem Fuß auf der ersten Stufe ausrutscht. Er strauchelt, greift nach dem Geländer und verliert die Stablampe, die mit ohrenbetäubendem Getöse die Holzstufen hinabpoltert und die Treppe dabei in ein wirres Blitzlichtgewitter taucht.
    Keuchend bleibt Gabriel stehen.
    Mit einem metallischen Klirren rollt die Maglite über den Kellerboden und bleibt zitternd liegen.
    Die roten Punkte an der Alarmanlage blinken um die Wette. Erst jetzt fällt Gabriel auf, wie sehr die Kellertreppe tatsächlich der in seinem Elternhaus ähnelt. Jäh wird ihm schwindelig. Die roten Punkte glühen, wie der Spion in Vaters Labortür manchmal geglüht hat, immer dann, wenn Vater im Labor gewesen war.
    Luke! Wach auf. Das ist nicht dein Keller. Deinen Keller gibt’s nicht mehr.
    Und wenn er da unten ist?, denkt Gabriel. Wenn Vater da unten ist? In seinem Innersten stellt er die Frage mit der bangen Stimme eines Elfjährigen.
    Ist er nicht. Das weißt du doch, Luke. Das weißt du!
    Gabriels Hand krallt sich um das Geländer, und er schließt die Augen.
    Verdammtes Déjà-vu. Verdammtes Labor. Verdammter Vater. Nicht ein einziges Mal hatte er das Labor sehen dürfen. In seiner Phantasie war aus dem Labor etwas Monströses geworden, ein magischer Raum mit der faszinierenden und zugleich abstoßenden Kraft eines Horrorkabinetts, das Herz eines Gespenstes, so wie dieses Haus hier. All das hätte sich in Rauch aufgelöst, mit einem Schlag, wenn er nur einmal das Labor hätte betreten dürfen. Aber er hatte es nicht betreten.

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