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Schnitt: Psychothriller

Schnitt: Psychothriller

Titel: Schnitt: Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Raabe
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Verbindungstür. In der Nacht vor dem Interview schlief Liz hundsmiserabel. Sie träumte davon, dass ihre Mutter als Zeugin in einem Prozess gegen sie aussagte. Der Gerichtssaal war hoch wie eine Kirche und menschenleer. Am Altar stand ihr Vater, der mit einem riesigen Buch auf den Marmor drosch und sie wegen Ketzerei verurteilte, zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Schweißgebadet schreckte Liz aus dem Traum empor, wankte zum Badezimmer und stürzte. Noch bevor sie sich aufrichten konnte, war Gabriel neben ihr, eine schwarze Gestalt in einem dunklen Zimmer.
    Â»Alles in Ordnung?«, fragte er.
    Nein, hätte Liz am liebsten gebrüllt. Bring sie um, alle beide! Ihre Lippen zitterten.
    Â»Schhhhh«, sagte Gabriel leise. Seine Stimme war rau und tief. In ihrem Unterleib setzte ein heftiges Ziehen ein. Gabriel strich ihr übers Gesicht und spürte, wie nass es war. Sie griff nach seiner Hand, sie wollte auf keinen Fall, dass er jetzt ging. Der Traum lag immer noch in der Luft.
    Mit ihrer freien Hand umfasste sie Gabriels Nacken und zog sich an ihm empor. Ihr Gesicht war nicht mehr als eine Handbreit von seinem entfernt. Sie spürte seinen Atem; spürte, wie er plötzlich aufhörte zu atmen und sich versteifte, als sei ihm das alles viel zu nah. Der Moment dehnte sich ins Unendliche, ihr Herz drehte auf. Vorhin hatte es vor Angst gehämmert. Jetzt überschlug es sich, vor Angst, er könnte das alles spüren, was sie gerade spürte, und sich zurückziehen. Es war ein einziger, ewig langer Moment, in dem sie beide eine Entscheidung treffen mussten. Und alles schrie danach, dass er gleich aufstehen würde, einfach alles. Sein Zögern, sein angehaltener Atem, sein steifer Nacken, seine Finger in ihrer Hand, die eiskalt waren, als hätte ihn plötzlich panische Angst gepackt.
    Täuschte sie sich, oder zitterten seine Lippen jetzt mehr als ihre?
    Sie stöhnte und zog sich noch etwas näher an ihn heran. Sie konnte nicht anders, als sich im Dunkeln seinem Gesicht zu nähern. Gleichzeitig rebellierte ihr Verstand. Es war einfach alles verkehrt. Der verfluchte Alptraum, der Mann vor ihr, sein Zögern, einfach alles. Und trotzdem zog sie ihn näher zu sich heran, bis ihr Mund ganz nah bei seinen Lippen war. Es war kein Kuss, es war ein Gegeneinander-Anatmen. Es war der Augenblick vor einem Kuss. Und er war so aufgeladen, als wäre Gabriel bereits in ihr, wie eine Preview auf etwas, das unweigerlich folgen musste, das unvermeidbar war und ewig dauern würde, ein Versprechen, nein, die Erfüllung eines Versprechens, das nie jemand von ihnen beiden gewagt hätte zu geben. In diesem Moment lag ihre ganze Verlorenheit, ebenso wie ihre Sehnsucht nach Heilung, und hätte sie in Gabriels Kopf schauen können, wäre sie in Tränen ausgebrochen, so verzweifelt war seine Gegenwehr. Hätte sie in seinen Kopf hineinhören können, sie hätte die Stimme gehört: Luke, renn weg. Lass die Finger davon, du verbrennst sie dir, hörst du? Du verbrennst!
    Sie hätte seine Sehnsucht gespürt, die Sehnsucht eines Elfjährigen im Körper eines Vierzigjährigen. Die Jahre zwischen elf und vierzig waren plötzlich wie ausradiert. Er stand an der Kante eines Sprungturms, in schwindelerregender Höhe, und wollte zugleich springen und davonlaufen, zurück zur Treppe mit dem verdammten sicheren Geländer.
    Sie hätte nie gedacht, dass er springen würde. Sie hatte ja noch nicht einmal von sich selbst gedacht, dass sie springen wollte.
    Aber sie waren gesprungen. Beide.
    Liz seufzt. Das Geräusch setzt sich wie ein Echo zwischen den Jugendstilfliesen des Hausflurs fort. Sie ist immer noch irritiert, wie oft sie ihn vermisst. Sie hat sich selbständiger eingeschätzt. Ihr Bedürfnis nach frischer Luft nimmt überhand. Direkt um die Ecke ist der Volkspark Friedrichshain, und sie wägt erneut ab, ob es klug ist, jetzt noch alleine einen Spaziergang zu machen. Wieder fällt ihr auf, wie sehr sie ihre Entscheidungen davon abhängig macht, ob er da ist oder nicht.
    Entschlossen öffnet sie die Haustür, sieht die Straße nach links und dann nach rechts hinunter. Ein weiteres Mal übersieht sie den olivenfarbenen Lieferwagen und tritt auf die Straße. Was soll’s, denkt sie. Den Weg ist sie schon tausendmal gelaufen, ob mit oder ohne Gabriel. Und überall am Wegrand stehen schließlich Laternen.
    Sie ignoriert die rote Ampel am

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