Schnitt: Psychothriller
In seiner spiegelblanken Anzeige leuchteten Zahlen und Zeichen. Wie bei Star Wars , im Cockpit eines Raumschiffs, dachte er.
Gabriels Zeigefinger näherte sich wie von selbst den Tasten und drückte eine davon. Er zuckte zusammen, als es im Inneren des Gerätes laut klackte. Zweimal, dreimal, dann das Surren eines Motors. Eine Kassette! In dem Gerät steckte eine Kassette! Seine Stirn brannte. Fiebrig drückte er einen weiteren Knopf. Der JVC antwortete ratternd. Störstreifen zuckten über den Monitor neben den Videorecordern. Das Bild zappelte noch einen Moment, dann war es da. Diffus, mit flimmernden Farben, unwirklich, wie ein Fenster zu einer anderen Welt.
Unwillkürlich hatte Gabriel sich vorgebeugt â und zuckte jetzt zurück. Sein Mund wurde ganz trocken. Das gleiche Bild wie auf dem Foto! Der gleiche Ort, die gleichen Säulen, die gleichen Menschen, nur dass sie sich bewegten. Er wollte den Blick abwenden, aber es war unmöglich. Er sog die stickige Luft durch den offenstehenden Mund ein und hielt dann den Atem an, ohne es zu bemerken.
Wie ein Blitzlichtgewitter hämmerten die Bilder auf ihn ein, und er konnte nicht anders, als gebannt zuzusehen.
Der Schnitt durch den schwarzen Stoff des Kleides.
Das helle Dreieck auf der noch helleren Haut.
Die wirren langen blonden Haare.
Das Chaos.
Und dann noch ein Schnitt â eine wütende und scharfe Bewegung, die sich förmlich in Gabriels Eingeweide übertrug. Schlagartig war ihm übel, und alles drehte sich. Der Fernseher starrte ihn bösartig an. Zitternd fand er den Knopf.
Aus! Weg!
Mit einem dumpfen Fump stürzte das Bild in sich zusammen, als gäbe es im Monitor eins von diesen schwarzen Löchern, wie im Weltraum. Das Geräusch war schrecklich und zugleich beruhigend. Er starrte auf die dunkle Mattscheibe, in die Spiegelung seines eigenen, rot leuchtenden Gesichts. Ein Gespenst mit schreckgeweiteten Augen starrte zurück.
Nicht dran denken! Nur nicht dran denken ⦠Er starrte auf die Fotos, auf das ganze Durcheinander, nur ja nicht auf den Monitor.
Was du nicht siehst, ist nicht da!
Aber es war da. Irgendwo im Monitor, tief drinnen im schwarzen Loch. Aus dem Videorecorder drang ein leises schleifendes Geräusch. Er wollte die Augen zukneifen und an einem anderen Ort wieder aufwachen. Egal wo. Nur nicht hier. Immer noch hockte er vor seinem gespenstischen Spiegelbild in den Monitoren.
Plötzlich überkam Gabriel der verzweifelte Wunsch, etwas Schönes zu sehen oder einfach nur etwas anderes. Als hätten sie einen eigenen Willen, steuerten seine Finger auf die anderen Monitore zu.
Fump. Fump. Die beiden oberen Monitore blitzten auf. Zwei flaue Videobilder kristallisierten sich und warfen einen stahlblauen Schimmer in das rote Laborlicht. Das eine Bild zeigte den Hausflur und die geöffnete Kellertür; die Treppe wurde von der Dunkelheit verschluckt. Das zweite Bild zeigte die Küche. Die Küche und â seine Eltern. Aus dem Lautsprecher schnarrte die Stimme seines Vaters.
Gabriel riss die Augen auf.
Nein! Bitte, nein!
Sein Vater stieà gegen den Küchentisch. Die Tischbeine schrammten hart über den Boden. Das Geräusch übertrug sich durch die Decke, und Gabriel zuckte zusammen. Sein Vater riss eine Schublade auf, griff hinein, und seine Hand kam wieder hervor.
Gabriel starrte entsetzt auf den Monitor. Er blinzelte und wünschte sich, er wäre blind! Blind und taub.
War er aber nicht.
Tränen schossen ihm in die Augen. Der chemische Geruch des Labors, vermischt mit dem Erbrochenen vor der Tür, lieà ihn würgen. Er wünschte sich, dass jemand kommt, ihn in den Arm nimmt, alles wegredet.
Aber niemand würde kommen. Er war alleine.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Keulenschlag. Jemand musste etwas tun. Und er war der Einzige, der jetzt noch etwas tun konnte.
Was würde Luke tun?
Leise, mit nackten FüÃen, die den kalten Boden nicht mehr spürten, schlich er die Kellertreppe hinauf. Das rote Zimmer in seinem Rücken glühte wie die Hölle.
Hätte er nur ein Laserschwert! Und dann, ganz plötzlich, fiel ihm etwas viel, viel Besseres ein als ein Schwert.
29 Jahre später
Kapitel 1
Berlin â 1. September, 23:04 Uhr
Das Foto schwebt wie ein böses Versprechen in dem fensterlosen Keller. DrauÃen tobt der Regen. Das alte Dach der Villa ächzt unter den Wassermassen, und an der Fachwerkfassade, direkt über
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