Schnitt: Psychothriller
Gerechtigkeit geglaubt, so wie ein Kind sich an einen Strohhalm klammert in einem Wald voller Bäume.
Gerechtigkeit? Vergiss es, Luke. Die gibtâs nicht. Was glaubst du, was die Bullen mit dir machen, wenn du da aufläufst. Gerechtigkeit! Sieh dich doch um. Gott und der Teufel würfeln. Der Einzige, auf den du dich verlassen kannst, das bist du selbst.
Ein Regentropfen zerplatzt auf seiner Stirn. Er sieht nach oben, der Himmel ist ein Gebirge aus Schiefer, und einzelne Regenfäden fallen wie Speere. Die Schreie der Krähen und das Dröhnen der Müllfahrzeuge werden vom anschwellenden Prasseln des Regens verschluckt.
Gabriel beiÃt die Zähne zusammen, ignoriert die Kopfschmerzen und richtet sich auf, taumelt, steht. Und jetzt?
Eine Dusche, ein neues Handy und ein Versteck. Und das alles kostet eine Stange Geld.
Gabriel atmet tief ein und ignoriert den Gestank. Sein Herz schlägt rascher, und der kalte Regen zwingt ihn, wach zu werden. Er stakst langsam durch die Abfallberge, in die Richtung, aus der die Motorgeräusche der Lastwagen kommen. Der Müll glänzt im Regen wie frisch lackiert.
Vergeblich versucht er, sich zu erinnern, wo in Berlin die Müllkippen liegen. Egal, er muss einen Müllwagen abpassen. Es dauert mehr als eine halbe Stunde, bis neben ihm ein orange lackiertes Fahrzeug der Berliner Stadtreinigung hält, das eine Fuhre Hausmüll abladen will. Durchnässt und schlotternd schlägt er mit der flachen Hand an die Fahrertür mit dem groÃen BSR -Logo.
Ein schmales Gesicht mit zottigen Augenbrauen starrt aus dem Fenster auf Gabriel hinab. Der Mann kurbelt die Scheibe herunter. »Na kiek ma an, jetzt laufen die Penner schon auf der Kippe rum.«
»Können Sie mich ein Stück mitnehmen?«, brüllt Gabriel gegen den Lärm des Lastwagens an.
Der Fahrer sieht ihn ausdruckslos an, dann zuckt er mit den Schultern. »Kommt janz drauf an, wohin Se müssen.«
»ChausseestraÃe. Zum Dorotheenstädtischen Friedhof.«
»Na, denn steig ma ein.«
Dankbar nickt Gabriel und klettert auf den Sitz.
Etwa eine gute Stunde später bremst der Müllwagen pfeifend vor dem Haupteingang des Dorotheenstädtischen Friedhofs.
Der Weg über den Friedhof hatte sich ihm eingebrannt, damals, vor fast dreiÃig Jahren. Der trockene blassbraune Kies, der unter Davids und seinen FüÃen knirschte, vor ihnen zwei Eichensärge, bis zum offenen Grab, das seine Eltern verschlang wie ein hungriges Maul.
Jetzt schimmert der Kies nass und dunkel. Der Boden hat sich mit Wasser vollgesogen, und die Steine drücken sich in den aufgeweichten Weg. Die Erde auf den Gräbern ist stumpf und schwarz, ein alles gleichmachendes Nichts, das jeden Lichtstrahl schluckt.
Entkräftet sinkt Gabriel vor dem Grabstein in die Knie. Der Regen läuft in krummen Bahnen über die verblasste goldene Inschrift auf dem rötlichen Marmor:
Clara und Wolf Naumann
13. Oktober 1979
Plötzlich wird er von einem unendlichen Gefühl von Traurigkeit überwältigt.
Ist es das, was du wolltest?, wispert es in seinem Schädel. Schocktherapie?
Du weiÃt genau, was ich hier will.
Aber siehst du nicht, wie recht ich hatte? Wohin das alles führt?
Du willst mir nur Angst machen.
Nein, Luke. Du HAST Angst. Zu Recht. Eigentlich willst du, dass alles bleibt, wie es ist, nicht wahr?
DU willst das. ICH will mich erinnern.
Ich will nur dein Bestes. Ich rate dir nur, was das Beste für dich ist.
Du bist ein beschissener Ratgeber.
Gabriel rutscht auf Knien nach rechts, neben den Marmorstein. Wasser läuft ihm in den Kragen, die Erde schmatzt unter seinen Beinen. Er kniet mehrere Zentimeter tief im Morast und beginnt, mit bloÃen Händen seitlich unter dem Stein ein Loch zu graben.
Hast du nicht Angst, das alles noch mal zu erleben?
Gabriel antwortet nicht, gräbt stur weiter, immer tiefer. Unter seinen Fingernägeln zeichnen sich schwarze Ränder ab.
Gib acht, Luke! Wenn du zu tief gräbst, dann hältst du ihre morschen Knochen in der Hand!
Er muss schlucken, aber seine klammen Finger höhlen den Boden unter dem Stein weiter aus.
Meinetwegen grab weiter, dagegen hab ich nichts. Ich will auch ins Warme. Aber hör endlich auf, in der Vergangenheit zu wühlen.
»Halt den Mund!«, schreit Gabriel. Seine Stimme überschlägt sich, verliert sich zwischen teilnahmslosen Steinengeln, Bäumen und zahllosen Gräbern.
In
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