Schnitt: Psychothriller
Krähenschreie dringen gedämpft durch den Müll.
»Dann lass uns abhauen. Soll er doch selbst suchen, wenn er sich den Arsch noch mal vorknöpfen will.«
Die Schritte der beiden entfernen sich raschelnd. Gabriels Herz rast, und das Einzige, was er im Moment tun kann, ist, still dazuliegen.
Eine Weile später ist nur noch das Krähengeschrei zu hören, und er wagt es, sich bis zur Oberfläche durchzuwühlen. Als er in den schweren grauen Himmel blinzelt, wird ihm schwindelig vor Erleichterung. Er sieht hinüber zur Rampe, um sicher zu sein, dass dort kein weiterer Müllwagen steht. Die beiden Männer sind weg.
Gabriel starrt deprimiert auf die Wüste aus Abfall. Entsorgt, wie ein Sack Müll, denkt er. Yuris Warnung könnte nicht deutlicher sein. Die Frage ist nur, aus welchem Grund er die beiden Typen losgeschickt hat, um ihn zurückzuholen.
Ein überwältigendes Gefühl der Verlorenheit überkommt ihn, breitet sich aus, bis in die letzte Faser seines Körpers. David glaubt ihm nicht, die Polizei ist ihm auf den Fersen, und Liz ist in der Gewalt eines Psychopathen, der sich an ihm, Gabriel, rächen will, und er hat nicht die geringste Ahnung, warum. Alles scheint ihm zu entgleiten.
Jetzt heul hier nicht rum, Luke. Reià dich gefälligst zusammen.
Aber er kann nicht an sich halten. Es ist wie ein Dammbruch, die Tränen laufen plötzlich einfach, als wäre er wieder elf und in einem Alptraum gefangen. Der Gestank des Mülls verursacht ihm erneut Ãbelkeit, in seinem Kopf blitzt ein Bild auf, von nackten Zehen und Kotze auf kaltem SteinfuÃboden. Er zittert, muss würgen und übergibt sich. Als er sich den Mund abwischt, lodert verzweifelte Wut in ihm auf. Wie konnte es nur passieren, dass Liz in seine Geschichte mit hineingezogen wurde, wie krank muss man sein, um sich an ihr zu vergreifen, obwohl es doch um ihn geht.
Der 13. Oktober.
Er weiÃ, dass er nur diese eine Tür in seinem Kopf öffnen muss â die Tür zu dieser einen Nacht. Hinter dieser Tür wartet Liz darauf, gerettet zu werden. So einfach ist das. Und so kompliziert.
Er denkt an den Traum, den er wenige Minuten zuvor hatte, wie er am Fuà der Treppe steht. Er versucht, sich an seiner Erinnerung rückwärts entlangzuhangeln, die Fragmente zusammenzusetzen. Seine Eltern haben gestritten, damals, in jener Nacht. David hat geschlafen, und er selbst ist aus dem Bett gekrochen, barfuÃ, in seinem Schlafanzug, an der Küche vorbeigeschlichen zur Kellertür. Weiter reicht seine Erinnerung nicht. Im Traum ist er in den Keller hinabgestiegen. Und das rote Zimmer mit den fleischigen Wänden, das ihn wie magisch anzieht, das muss das Labor sein.
Vaters Labor.
Vergiss es, Luke, du kannst dich nicht erinnern.
Es muss etwas mit dem Labor zu tun haben. Nur was?
Hör auf, es war nur ein Traum!
Gabriel presst die Lippen zusammen. Es ist sinnlos. Die Tür ist zu.
Er starrt in den Himmel und überlegt, welcher Tag eigentlich ist. Der 3. September? Oder schon der 4. September? Bis zum 13. Oktober sind es noch knapp sechs Wochen. Ein Muskel unter seinem Auge zuckt unkontrolliert. Er versucht aufzustehen. Der Müll unter ihm gibt nach, er strauchelt und sackt in den weichen Unrat zurück.
Reià dich zusammen, denkt er.
Er steckt die Hände in seine Jackentaschen und wühlt fiebrig darin. Nichts. Gähnende Leere. Keine Schlüssel, kein Ausweis, kein Geld. Selbst das Geld, das er Dressler abgenommen hat, ist weg. Nur in der Innentasche seiner Jacke steckt etwas. Seine Finger tasten nach dem Gegenstand. Das Handy, denkt er. Lizâ Handy. Mit zwei Fingern fischt er es heraus. Das Plastikgehäuse ist zersplittert, das Display grünblau angelaufen und die Platine angebrochen. Für einen Moment setzt sein Herzschlag aus. Das Handy ist seine einzige Verbindung zu Liz, vielmehr zu ihrem Entführer.
Mit bebenden Fingern entfernt er den Akku und zieht das Herzstück des Handys hervor: die SIM -Karte. Er betrachtet den fingernagelgroÃen Chip von beiden Seiten und atmet erleichtert auf. Die Karte scheint unbeschädigt zu sein, und in einem neuen Telefon wird sie funktionieren. Der Entführer wird ihn also wieder anrufen. Falls er das überhaupt vorhat.
Plötzlich fragt er sich, ob es nicht doch besser ist, zur Polizei zu gehen und die ganze Geschichte zu erzählen. Liz würde zur Polizei gehen. David auch. David hat schon immer an
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