Schnittstellen
obwohl sie die Auseinandersetzungen zwischen Marvin und uns hundertprozentig mitbekommt. Was sollte sie auch machen? Sie liebt uns und ihren Bruder. Das Schlimmste ist, dass ich Marvin nichts mehr glauben kann. Das ist auch für Herrn Sänger das große Problem. Die Unwahrheit ist Marvins Schutzschild. Wenn er etwas angestellt hat, kommt es nur auf Umwegen ans Tageslicht und wiegt dann umso schwerer. Selbst sein engster Freund meldet sich nicht mehr bei uns. Mein Vertrauen ist dahin. Inzwischen geht es so weit, dass ich und Karl nicht mehr in Ruhe das Haus verlassen können, obwohl Marvin und Meike in einem Alter sind, wo andere Eltern selbstverständlich ausgehen. Seine Zerstörungswut macht uns Angst. Es ist kein Zustand mehr, weder für uns noch für ihn. Ich bin keine Psychologin, aber ich glaube, er ist mit unserer Art emotionaler Bindung überfordert. Er wirkt wie die berühmte Walnussschale, die auf dem Meer treibt. Ohne eigene Steuerung und ohne jede Bindung. Immer wieder versuche ich, mit Marvin zu reden, doch er weicht mir aus. Und dann frage ich ihn eines Abends, was mir schon seit einigen Wochen auf der Seele brennt.
»Kann es sein, dass du dich bei uns nicht mehr wohlfühlst?«
Marvin schaut mich schweigend an.
»Ich meine, du bist hier nicht im Gefängnis. Du bist freiwillig hier. Wenn du es nicht mehr aushältst, gibt es andere Möglichkeiten.«
Zum ersten Mal seit langer Zeit leuchten Marvins Augen. »Welche denn?«, fragt er.
»Du wirst sechzehn. Da gibt es die Möglichkeit des betreuten Wohnens.«
Marvin verlässt nicht wütend den Raum, sondern wendet sich mir interessiert zu. Ich muss schlucken. Die Bleikugel in meinem Magen wird nicht leichter. So wenig fühlt er sich bei uns zu Hause, dass er mit wehenden Fahnen davongeht? Ich versuche, meine Enttäuschung nicht zu zeigen.
»Es ist dort nicht wie auf Burg Schreckenstein«, erkläre ich, »aber auch nicht wie in einer Jugendherberge. Die meisten Jugendlichen in diesen Häusern haben ähnliche Schwierigkeiten wie du.«
Vielleicht ist es gerade dieser Umstand, der Marvin reizt.
Meike
Marvin wird gehen. Was soll ich dazu sagen? Wenn Mama, Papa und Marvin sich einig sind, dann wird das seine Gründe haben. Ich hinterfrage nicht, wieso Marvin fort will, einige Gründe sind offensichtlich.
Für mich steht fest, dass mein Bruder trotzdem mein Bruder bleibt. Wir werden uns treffen können und miteinander reden und etwas miteinander unternehmen, wenn wir es möchten. Das wird nicht ständig passieren, denn wir haben ja unterschiedliche Freunde und Interessen. Aber wenn wir einander brauchen, können wir uns bei dem anderen melden, Marvin bleibt in Köln, und wir wissen beide, wo wir uns finden.
Mein Bruder zieht aus und wird eigenständig, so wie ich eines Tages sicher auch, das ändert nichts an unserer Beziehung. Dass ich diese Sache voraussetze, verhindert, dass ich traurig über seinen Abschied bin. Es ist schließlich kein Abschied für immer.
Anja
Marvin packt seine Sachen, als ginge es in den Urlaub. Am Morgen des Umzugs beladen wir zusammen unseren Kombi. Dem Jungen scheint der Abschied leichtzufallen. Oder tut er nur so? Ich habe den ganzen Tag einen Kloß im Hals und muss mich ständig räuspern.
»Also, du weißt, dass du dich jederzeit melden kannst?«, frage ich, nachdem wir die letzte Kiste im Wagen verstaut haben.
»Ja.« Marvin nickt. Mehr sagt er nicht, und ich weiß auch nichts mehr zu sagen. Karl schweigt ebenfalls. Vielleicht sind solche Momente zum Schweigen da, aber mir fehlt dann immer etwas. Wenn man keine Worte wechselt, bleibt doch alles unklar. Warum habe ich nur immer das Bedürfnis, Schwierigkeiten durch Reden aufzulösen? Die Stille im Auto während der Fahrt bedrückt mich, und so bin ich erleichtert, als wir auf dem Parkplatz hinter dem Jugendheim ankommen, in dem Marvin von heute an leben wird. Jetzt gibt es wieder etwas zu tun. Auspacken, das Heim begutachten. Die Erzieher machen einen freundlichen und hilfsbereiten Eindruck. Marvin teilt das Zimmer mit einem Jugendlichen. Er bekommt Bett, Schrank und Tisch gezeigt, und wir machen uns ans Einräumen. Schließlich ist alles getan. »Du kommst zurecht?«, frage ich noch einmal. Und Marvin nickt. Steif umarmen wir uns. Karl klopft Marvin zum Abschied auf die Schulter. Marvin hat ein Gespräch mit der Gruppenleiterin, und wir verlassen das Haus.
Meike
Ich weiß nicht wirklich, wie ich es finden soll, dass Marvin ausgezogen ist. Ich kann gar nichts fühlen.
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