Schnittstellen
will, wenn alles so bleibt, wie es ist.
»Ja, aber was soll sich ändern?«, frage ich ratlos.
Und Frau Liefen hat einfach nur gute Ideen. Sie erklärt, dass sie außer Miriam natürlich noch in andere Fälle eingebunden ist, die sie zeitlich einschränken, aber wenn wir es hinbekommen könnten, dass Miriam dann und dann in München ankommt, könnte sie persönlich am Bahnhof sein und mit Miriam alles durchsprechen. Sie hätte sogar eine Unterbringungsmöglichkeit, damit sie nicht sofort in ihre Familie zurückkehren müsse.
Ich bin platt. Wenn ich bedenke, mit welchen Amtsmühlen wir schon gekämpft haben. Aber diese Geschwindigkeit ist mir auch unheimlich. Ich denke, wenn Frau Liefen doch nur im Sinne von Miriams Eltern handelt und Miriam einfach zurückgebracht wird, dann können wir von Köln aus nichts machen … Vor allem Miriams Vater ist mir nicht geheuer, denn er hatte alle Abmachungen, die ich mit Miriams Mutter getroffen hatte, in den Wind geschossen und vermutlich sogar seine Frau so weit manipuliert, dass sie uns beim zweiten Telefongespräch nur Vorwürfe machte. Ich hörte genau den Vater: »Miriam hat hier zu sein, zu gehorchen und sonst nichts!«
Wenn er Frau Liefen beeinflusste … Und bestimmt gibt es Familien, in denen es noch ganz anders zugeht, Kinderheime und Straßen sind ja voll von Kindern aus schwierigen Verhältnissen …
Ich schildere Frau Liefen meine Sorge. Ich möchte das Vertrauen, das Miriam zu Meike und uns gefasst hat, nicht enttäuschen, das wäre ja grauenhaft.
Frau Liefen beruhigt mich. Nein, nichts wird gegen Miriams Willen geschehen, und Miriam kann uns doch gleich anrufen von München aus, dass alles so ist, wie Frau Liefen es versprochen hat.
Meike
Das geht gar nicht. Miriam soll schon morgen zurückfahren. Die Frau vom Amt macht uns bestimmt nur etwas vor. Das denkt Miriam auch, und sie hat den absoluten Horror. Sie will schon wieder abhauen und ganz woanders hinfahren, Hauptsache nicht nach Hause. Sie weint, weil sie dachte, sie könnte noch bei uns bleiben. Wieso ist sich Mama nur so sicher, dass alles mit rechten Dingen zugeht? Dass alles in Miriams Sinn ablaufen wird? Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Miriam liegt auf meinem Bett und heult sich die Augen aus dem Kopf. Sie ist ganz anders als ich. Sie spricht wenig und leise. Ich schrei immer gleich herum, wenn mir etwas nicht passt. Meine Mutter ermahnt mich dann, ich soll ordentlich reden, aber das kann ich manchmal einfach nicht. Wenn ich wütend bin oder ich mich im Recht fühle und meine Mutter das nicht einsieht, platzt der Ärger ungefiltert aus mir heraus. Frau Hendricks meint, ich hätte früher nicht gelernt, meinen Unmut oder mein Traurigsein auszudrücken, und deshalb äußere ich diese Gefühle heute oft noch unangemessen. Ich finde das schwierig, wenn man sich nicht unter Kontrolle hat. Miriam hat das wohl auch nicht gelernt zu sagen, was ihr nicht passt, aber sie spricht so, dass man fast nichts hört. Ich bin beinah froh, dass es an der Tür klopft (sonst nervt mich das meistens). »Herein«, sage ich, und meine Mutter kommt ins Zimmer.
»Darf ich mal mit Miriam sprechen?«, fragt sie vorsichtig. Miriam setzt sich auf und wischt sich die Tränen ab. Sie nickt.
Anja
Mein Gott, das war nicht leicht, Miriam zu überzeugen, dass es alle gut mit ihr meinen. Meine einzige Angst ist jetzt, mich in Frau Liefen getäuscht zu haben. Aber ich habe Miriam fest versprochen, dass wir zu ihr kommen, wenn man uns belogen hat. Natürlich hoffe ich, dass das nicht nötig ist. Und ich glaube es auch nicht. Ich vertraue Frau Liefen. Miriam wird ihren Eltern nicht allein gegenüberstehen, und sie wird auch nicht gezwungen werden, mit ihnen nach Hause zu gehen, wenn sie es nicht will. Daran glaube ich, als wir Miriam verabschieden. Ich nehme sie zum Abschied fest in den Arm. Als die Mädchen sich umarmen, haben sie beide Tränen in den Augen. Ich bin froh, dass ich zur Schule muss, denn wir werden erst heute Nachmittag erfahren, wie es wirklich ausgeht.
Meikes Tagebuch
Verräter
Es gibt so viele Menschen, die einmal – oder auch mehrmals – in ihrem Leben an einen Punkt kommen, an dem sie nicht weiterwissen, an dem sie nicht weiterkönnen. Sie verzweifeln an der Gesellschaft und dem System, das sie erschaffen hat. Sie hoffen auf Veränderungen und auf Hilfe, hinaus aus der Ungewissheit und den Schmerzen. Neben ihrer Verzweiflung sammelt sich Hass, Hass auf jene, die diese Regeln gemacht haben, und auf
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