Schnittstellen
halten, zeigt mir Herr Kuckensiel, wo im Auto die Handschuhe liegen. Es sind diese Einweghandschuhe, sehr cool, ich mag das, mit diesen Handschuhen fühlt man sich wichtig, wie ein Arzt oder so. Ich habe mir vorher gar keine Gedanken über Handschuhe gemacht, doch es macht Sinn, bei solch einem Einsatz Handschuhe zu tragen, zumindest mit Blick auf die Gesellschaft. Für mich nicht unbedingt. Klar, wenn der Tote Krankheiten oder sonst etwas hatte oder irgendwas gefährlich ist, dann sollte man Handschuhe tragen. Aber wenn einfach jemand gestorben ist? Einerseits macht es den Eindruck, als würde man sich vor dem Kontakt mit dem Verstorbenen ekeln, das ist diesem gegenüber beleidigend. Andererseits ist es natürlich respektvoller, eine Leiche mit Handschuhen anzufassen. Im Grunde kommt es auf die Person des Toten selbst an, welche Sichtweise sie bevorzugt, aber das können wir schlecht in Erfahrung bringen. Also finde ich mich mit den Handschuhen ab.
Der Tote ist ein sehr alter Mann, oder zumindest sieht er sehr alt aus. Alt und dünn, mit fast ganz weißem Haar. Gemeinsam legen Herr Kuckensiel und ich den Toten in den Sarg, den wir zuvor aus dem Auto geschafft haben. Der alte Mann ist gar nicht schwer, das erleichtert mich etwas. Ich denke zwar nicht, dass ich schwach bin, aber übermäßig stark bin ich auch nicht. Irgendwie finde ich es schon schade, einen Toten nicht so mit bloßen Händen berühren zu können, ich frage mich, wie sich das anfühlt. Mehr frage ich mich in dem Moment nicht. Mein Gefühl hat mich nicht getrogen, es macht mir kein Problem, tote Menschen zu sehen oder anzufassen, warum auch? Ich verstehe nicht, wieso andere Menschen damit Probleme haben. Nachdem wir den Sarg in das Auto zurückgeschoben haben, desinfizieren wir unsere Hände. Diese Desinfizierkästchen gibt es scheinbar in allen Leichenhallen und Krankenhäusern. Der Desinfizierungsakt ist für mich ein Beleg dafür, dass die Handschuhe wohl eher zu unserem Sauberkeitsgefühl und unserer Sicherheit da sind und gar nichts mit Respekt vor dem Toten zu tun haben. Was soll’s, ich kann nicht erwarten, dass alle Menschen natürliche Dinge so selbstverständlich hinnehmen wie ich.
Anja
Meike macht sich sehr gut im Praktikum. Ihr Perfektionismus kommt gut an bei Herrn Kuckensiel. Was sie alles erzählt … es ist spannend, und viele Dinge sind auch für Karl und mich neu. Sie wird sogar auf eine Fortbildung geschickt. Es gibt ein neues Grafikprogramm für den Entwurf von Traueranzeigen, und mit dem Computer kann Meike gut umgehen. Aber dass sie auch Verstorbene abholen muss. Meike scheint das nicht zu stören. Ihre Freizeit verbringt sie vorwiegend am PC. Jetzt möchte sie, dass uns ein Mädchen besucht, dass sie in irgendeinem der virtuellen Chaträume kennen gelernt hat.
»Mama, stört es euch, wenn Miriam mich besuchen kommt?«
»Miriam?«
»Ja, ich habe doch von ihr erzählt … das Mädchen aus Bayern.«
»Und wann? Es sind doch gar keine Ferien.«
»Ja, nur zum Wochenende. Sie würde gern Köln kennen lernen und mich halt persönlich treffen.«
Mir kommt das etwas seltsam vor, so eine weite Reise nur für ein Wochenende, aber Karl und mich freut es, dass Meike wieder kontaktfreudiger ist, also stimmen wir zu.
Meike
Miriam scheint ganz nett zu sein. Und ein bisschen verzweifelt. Ich kenne sie noch nicht lange, ein, zwei Wochen vielleicht, und das auch nur übers Internet. Also kenne ich sie im Grunde gar nicht. Aber sie will weg. Weg von zu Hause. Ich kenne dieses Gefühl, wenn man fort will und nicht weiß, wohin. Ich würde ihr gern helfen. Ich kann sie bis jetzt natürlich nur sehr oberflächlich beurteilen, aber ich habe den Eindruck, sie ist eher schüchtern und ängstlich. Sie wirkt nicht wie ich, wenn ich es nicht mehr aushalte. Ich motze dann immer herum und erkläre, wieso ich wegwill. Miriam scheint nicht aggressiv zu sein, sie scheint nicht so wütend zu sein, sondern eher ängstlich. Aus welchen Gründen auch immer sie von zu Hause fort will. Wenn man wegwill, dann hat das seine Gründe und dann sollte man die Möglichkeit bekommen, fortgehen zu können. Diese Möglichkeit möchte ich ihr gern geben. Ich frage meine Eltern, ob sie vorbeikommen kann. Dass sie von zu Hause weg will, weil sie Stress mit ihren Eltern hat und so, das erzähl ich meinen Eltern erst mal nicht. Die würden mir wahrscheinlich irgendwelche Moralpredigten halten und mit ihr telefonieren wollen und versuchen, das alles durch Miteinanderreden
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