Schnupperküsse: Roman (German Edition)
mir vor ein paar Monaten zeigte, sein Potenzial erkennen.
»Mum, kann ich etwas zu essen haben?«, fragt mich Adam, der neben mir steht.
»Ich dachte, du willst dich erst mal umsehen und die Gegend erforschen«, antworte ich, in der Hoffnung, das Haus für ein paar Minuten für mich zu haben, um mich zu sammeln, bevor meine Eltern und die Leute von der Umzugsfirma auftauchen.
»Davor brauche ich trotzdem was zu essen«, beharrt er.
»In der Kühltasche ist etwas«, sagte ich. »Georgia, kannst du Adam bitte die Tasche geben?«
Georgia lässt sie vor die Füße ihres Bruders fallen, der in seinen Skateboard-Schuhen mit den fluoreszierenden Schnürsenkeln Größe 43 hat. Er beginnt, sie zu durchwühlen, und zieht die Dose mit den Schokoladenbrownies hervor, die ich gestern Abend gebacken habe, als wir bei meinen Eltern übernachteten, um den Umzugsleuten nicht im Weg zu stehen, die den Rest unserer Sachen in Kisten packten. Wenn’s hart auf hart kommt, muss man’s hart angehen – was in meinem Fall heißt, ab in die Küche und backen.
»Die nicht«, werfe ich ein. »Die sind für später.«
»Aber ich bin am Verhungern.« Adam untersucht die zweite Dose. »Was ist mit dem Kirschkuchen? Jetzt sag bloß nicht, den hebst du auch für später auf …«
Mir liegt der Satz zwar schon auf den Lippen, aber ich habe ein schlechtes Gewissen, ihn seiner Freunde und seines Skateparks beraubt zu haben, und so gebe ich nach.
»Aber lass ein Stück für Granddad übrig.« Zum großen Bedauern meines Vaters hatte das Back-Gen innerhalb unserer Familie eine Generation übersprungen. Die Mutter meiner Mutter backte gerne, so wie ich, doch meine Mutter stellte ihre Bemühungen in diesem Bereich schon vor Jahren ein, nachdem ihre Rosinenkekse so hart wie Granit und ihre Kokosnusshütchen so platt wie Flundern geworden waren, statt keck und spitz wie Madonnas BH in den Achtzigern. In der Familie wurden sie daraufhin nur »die Flachkekse« genannt.
»Ich möchte auch ein Stück, das ist sonst nicht fair«, ertönt es hinter mir von Sophie, der Hüterin der Gerechtigkeit. »Adam, gib mir die Dose.«
»Ich möchte nichts, danke«, sagt Georgia höflich, und ich lächle innerlich.
Die drei sind so unterschiedlich, und dennoch liebe ich sie alle bedingungslos, selbst nach drei Stunden im Auto. Für die Liebe einer Mutter gibt es keine schlimmere Prüfung als eine 170 km lange Autofahrt an einem heißen Sommertag.
Georgia ist ein ruhiges und sensibles Mädchen, während Sophie nach ihrem Vater kommt: kontaktfreudig und selbstgerecht. Adams Persönlichkeit liegt irgendwo dazwischen. Auch wenn er nicht geplant war, war er der beste Fehler meines Lebens. Georgia kam etwas später zur Welt, als wir wollten, und Sophie entstand völlig spontan. Sie sollte der krönende Abschluss, sozusagen die Glasur auf dem Kuchen sein, doch stellte sie sich eher als die Marmelade in einer Biskuittorte heraus, die die Schichten unserer Ehe nach einer von Davids Affären zusammenhielt. Der Versuch jedoch misslang, weshalb wir, so denke ich, jetzt da sind, wo wir gerade sind.
Für etwaiges Bedauern aber ist es zu spät. Die Scheidung liegt hinter uns. Das Geld hat die Hände seines Besitzers gewechselt – David war in den Scheidungsvereinbarungen großzügig, was sich auch so gehörte, denn er zeigte keine große Reue – somit gibt es keinen Weg zurück. Ich habe die Tür zu meinem alten Leben heute geschlossen und alles damit zurückgelassen … Außer natürlich meinen Kindern, meinem Auto und dem Umzugswagen. Oh, und meinen Eltern, die uns mit ihrem Wagen hinterhergefahren sind. Sie bestanden darauf, mitzukommen und beim Umzug zu helfen, wofür ich ihnen dankbar bin, denn ich glaube nicht, dass ich es ohne sie bis hierher geschafft hätte.
»Jennie, wir sind da!«, ruft meine Mutter und kommt herein. Sie nimmt mich wie immer zur Begrüßung in den Arm, als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen. Sie ist sechsundsechzig, könnte aber ohne weiteres für zehn Jahre jünger gehalten werden. Ihr Haar ist kurz geschnitten und liegt an ihrem Kopf wie Beton. Den Kindern erzählt sie immer, sie würde ihr Gesicht bügeln, um die Falten in Schach zu halten. Sie trägt eine abgeschnittene Hose, ein Oberteil aus Baumwolle und flache Sandalen. Adam, der neben ihr steht, überragt sie.
»Wie geht’s meinem wundervollen Enkel?«, fragt sie und grinst dabei, woraufhin er sich schnell aus ihrer Reichweite verzieht. »Keine Angst, ich werde dich nicht
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