Schockgefroren
auch erst einen Spalt, liegen die Dinge anders. Ich habe kein normales Leben, deshalb kommen Reporter und Filmteams, aber sie wollen trotzdem mein normales Leben sehen. So ist das mit uns Menschen. Wir leben in Widersprüchen.
»Ich kann nachfragen, ob es möglich ist«, höre ich mich sagen. »Das heißt also, Sie sind dabei?«
Tatsächlich, Sascha, frage ich mich. Heißt es das? Hast du die Entweder-oder-Frage, die du so sehr hasst, schon beantwortet? Du willst also erfahren, welche Erinnerungen noch im Verlies sind? Du willst es wirklich wissen? Ich halte meine Feierabendzigarette in der Hand, die Glut berührt mittlerweile fast die Finger. Ich schnippe sie weg. Manchmal verstehe ich selbst nicht, weshalb ich mich für etwas entscheide.
»Ja«, sage ich, »das bin ich.«
»Ich habe Hunger, Adi, aber ich mag keine Zwiebeln.«
Ich brauche vielleicht noch eine Stunde, dann ist der Satz draußen. Die Worte lagen in meinem Mund, ich habe darauf herumgekaut, und manchmal war es fast so weit. Dann traute ich mich doch nicht. Wenn ich aber nichts zu essen kriege, werde ich verhungern, also muss ich es sagen. Wobei ich gar kein richtiges Hungergefühl spüre, sondern eher eine schmerzhafte Leere. Diese riesige Lust zu essen, was Mama gekocht hat, die ist weg. Ständig krampft sich mein Magen zusammen. Mein Bauch ist aufgeschwollen und fühlt sich hart an. Aber der Engel hat gesagt, du musst erwachsen werden, und als Erwachsener weiß man, dass man essen muss. Der Satz eines Onkels geht mir nicht mehr aus dem Kopf: »Ich esse alles, was auf den Tisch kommt.« Das tun Erwachsene, also muss ich es auch tun. Ich muss den Geist dazu bringen, etwas auf den Tisch zu bringen. Warum isst er selbst so wenig? Weil er der Teufel ist? Weil Teufel nichts essen müssen? Nein, manchmal sehe ich, wie er etwas aus einer Dose mampft. Im Augenblick hat er wieder einen seiner Anfälle und redet mit sich selbst. Wie immer geht es darum, dass man das mit ihm nicht machen kann. Mein Satz lässt ihn verstummen. Er starrt mich an.
»Was willst du?«, fragt er.
Ich weiß nicht, weshalb, aber ich habe keine Antwort auf die Frage. Normalerweise könnte ich hundert Dinge nennen, die ich essen will, ja, mir würden Tausende einfallen! Aber jetzt kam die Frage so plötzlich, so unvermittelt. Mir fällt nur etwas Blödes darauf ein, der Witz meines Papas, in dem Herr Meier den Verkäufer bittet, die Pizza nicht in zwölf Stücke zu schneiden, sondern in acht, damit er auch alles schafft. Der Witz saust durch meinen Kopf, von vorne nach hinten und wieder zurück; soll ich die Pizza in acht oder zwölf Stücke schneiden, na los, sag schon, mach den Mund auf, aber ich schaff es nicht, der Teufel hat mich wieder aus der Bahn geworfen.
Da setzt er sich in Bewegung, und ich ducke mich, weil ich glaube, jetzt ist es wieder so weit, er schlägt mich oder hebt mich hoch und lässt mich fallen, eines seiner Lieblingsspiele, oder der Pimmel ist dran oder etwas, das ich noch nicht kenne. Aber er stürmt an mir vorbei, als ob ich nicht da bin, als ob ihn eine Idee wegtreibt, und schon ist er draußen, und ich bin alleine im Wohnwagen. Und schon ist er wieder zurück.
»Hau ja nicht ab«, droht er. »Sonst bring ich dich um.«
Ich bin in den letzten beiden Stunden schon erwachsener geworden, und außerdem habe ich ein paar Jahre auf dem Buckel, und manchmal bin ich neunmalklug. Hau ja nicht ab, sonst bringe ich dich um – das klappt nicht. Das kann nicht funktionieren. Wenn ich erst mal abgehauen bin, bin ich weg, dann bringt mich keiner mehr um, auch der Teufel nicht. Das muss er auch gemerkt haben, denn er packt mich wieder und zerrt mich hinter sich her. Wieder geht es nach draußen. Wieder ist es dort so kalt und so schön. Der Geist hält mich an der Hand, und offenbar wird ihm klar, dass sein Plan nicht klappen wird. Er bringt mich zurück in den Wohnwagen. Dort macht er sich an dem Gerümpel zu schaffen, das aufgeschichtet in einer Ecke liegt. Darunter kommt eine Kiste zum Vorschein. Irgendwas wird drin sein, denke ich. Mehr nicht, vor allem nicht, dass sie für mich bestimmt sein könnte. Dass nicht »irgendwas« drin sein wird, sondern ich. Daran denke ich nicht, weil die Kiste auch viel zu klein ist. Als er mich anherrscht »Geh da rein«, schaue ich ihn nur entgeistert an. Er denkt, ich will nicht. Er weiß, was er tun muss, wenn ich nicht will. Er muss mich nur ohrfeigen. Er muss mich hochheben und fallen lassen. Spätestens dann will ich.
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