Schockgefroren
lebhafter. Der Kameramann begleitet mich hinter die Theke, wo ich Wein hole. Meine üblichen Handhabungen wie das Entkorken und das Kostenlassen schenken wir uns. Dafür ist keine Zeit im Film. Der Kameramann filmt, wie ich serviere. Das tue ich gewandt wie immer, wie es sich gehört, von der rechten Seite kommend, wobei meine linke Hand auf dem Rücken ruht und meine rechte die Flasche umgreift, die in einem Tuch liegt. Na bitte, geht doch: Ich bin ganz so, wie ich immer bin. Die Regisseurin lobt mich. Nun will sie draußen drehen. Also gehe ich an der Kapruner Ache entlang, in meiner braunen Lederjacke mit dem warmen Veloursbesatz, die mir hier im Winter gute Dienste erweist. Ich trage die schwarzen Handschuhe, die auch schon auf den Fotos im Magazin auftauchen. In der rechten Hand verstecke ich meine Zigarette, die soll nicht im Bild sein. Zu diesen Filmbildern wird eine Sprecherin später sagen, dass ich Pläne für die Zukunft schmiede. Dass ich Restaurantmanager werden will. Und eine Familie gründen.
Das habe ich auch gesagt, als die Regisseurin ein Interview mit mir führt und wissen will, was ich in Zukunft tun möchte. »Ich will Restaurantmanager werden«, sagte ich. »Ich will eine Familie gründen.«
Ich spreche nicht davon, was ich nicht möchte: weiterhin von Haien angegriffen werden. Auf einer ganz normalen Treppe stehen und Höhenangst bekommen. Meine Tür und meine Fenster immerzu mit Ketten sichern müssen. Und mich auf die Fahrerseite eines Autos setzen. Weil ich weiß, was dort alles passieren kann. Ach ja, meine Unfälle. All die Autounfälle, die ich hatte. Von denen weiß die Regisseurin nichts, deshalb stellt sie mir dazu keine Fragen.
»Für mich ist es sehr wichtig, dass man die Vergangenheit verschließen soll, am besten mit einem eisernen Vorhang, damit da nichts rauskommt«, erkläre ich im Interview. Und denke gleichzeitig, aber was du gerade tust, Sascha Buzmann, ist das krasse Gegenteil davon. Erst stehst du einem Reporter Rede und Antwort. Jetzt lässt du einen Film über dich drehen. Auf deinem Computer gibt es eine Datei mit dem Titel »Meine Erinnerung«. Auch wenn du schon einige Zeit nichts mehr geschrieben hast, ist sie immer da: »Ich warte auf dich«, sagt sie. »Wenn du dazu bereit bist, wirst du weiterschreiben. Eines Tages wird es so weit sein.«
Vor der Kamera rede ich davon, die Vergangenheit zu verschließen, aber ich tue das Gegenteil: Ich rüttle am eisernen Vorhang und sorge dafür, dass eine Menge Vergangenheit ans Tageslicht kommt. Ich unterbreche die Regisseurin und stelle selbst Fragen.
»Wie war das damals bei der Suche nach mir?«, will ich wissen. Die Regisseurin hat ihre Hausaufgaben gemacht. Sie hat recherchiert und weiß bestens Bescheid. Bereitwillig gibt sie mir Auskunft:
»Nach allgemeiner Überzeugung konnten Sie nicht weiter als sieben Kilometer vom Wohnort entfernt sein«, erzählt sie. »Also suchte in diesem Umkreis eine Sonderkommission nach Ihnen. Die Polizisten gaben sich alle Mühe. Sie drehten jeden Stein um. Sie tauchten in Seen und Fischweiher. Sie hatten Hunde und Pferde. Eine Kompanie US-Soldaten beteiligte sich, die Feuerwehren der Region waren auch dabei. Man setzte Flugzeuge ein. Polizisten fuhren mit der Linie 25 und befragten Fahrgäste. Sie verteilten Flugblätter. Alles ohne Erfolg.«
Weil schon die erste Überlegung falsch gewesen war: Sascha Buzmann ist neun Jahre alt und hat sich sicherlich nicht weit von der Stelle entfernt, an der er zuletzt gesehen worden ist. Alle Polizisten, Soldaten und Feuerwehrleute wären ausgesprochen entsetzt gewesen, hätten sie gewusst, dass ich viel weiter von diesem Gebiet entfernt war, auf das sie sich konzentrierten.
Und dass ich dort in einer Kiste steckte, die nur 111 Zentimeter lang, 56 Zentimeter breit und 46 Zentimeter hoch war.
In der es so dunkel und unheimlich und kalt und einsam und stickig und eng und beklemmend und entsetzlich furchtbar schrecklich war … Ich atme tief durch. Für einen Augenblick will die Erinnerung mit mir durchgehen. Das darf auf keinen Fall geschehen. Sascha Buzmann ist dafür bekannt, höflich, zuvorkommend, aufmerksam und liebenswürdig zu sein, auch dann, wenn er gefilmt wird. Auch dann, wenn er sagt, dass er die Vergangenheit verschließen will, damit da nichts rauskommt, aber genau das Gegenteil tut.
»Adam G. hat die Kiste mit zwanzig Steinen beschwert, damit Sie nicht rauskommen«, sagt die Regisseurin plötzlich, als könne sie alle Gedanken in
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