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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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meinem Kopf lesen.
    Ich weiß nicht, dass es zwanzig Steine waren. Ich weiß nur, irgendetwas lastete schwer auf dem Deckel, denn es wollte mir einfach nicht gelingen, die verdammte Kiste aufzudrücken. Sosehr ich mich abmühte, sosehr ich es versuchte, das verdammte Scheißding ging und ging nicht auf.

Ich weine und heule und schreie
und heiße die Kiste und mich und den Geist und meine Eltern und die ganze Welt alle Schimpfworte, die ich kenne, während ich mit den Knien gegen das Holz drücke. Ich verliere die Nerven, und es ist mir auf einmal scheißegal, ob die Drecksau da draußen steht und lauscht. Die Drecksau soll mich grün und blau schlagen, sie soll mich gegen die Wand schmeißen, sie soll mich hochheben und fallen lassen, sie soll mich umbringen, es ist mir gleichgültig. Alles ist mir gleichgültig, wenn ich nur hier rauskomme! Was habe ich getan, was habe ich nur getan? Was habe ich verbrochen? Ich zermartere mir den Kopf. Rotz läuft mir aus der Nase und verklebt mein Gesicht, und ich will hier raus! Raus, raus, raus! Ich versuche, meine Beine so zu drehen, dass ich sie gegen den Deckel der Kiste stemmen kann, aber das Einzige, was passiert, ist ein Muskelkrampf. Ich heule noch mehr. Warum hört mich keiner? Warum ist da niemand, warum holt mich keiner raus? Warum bin ich allein? O Gott, o Gott, o Gott, wo bist du, wo ist der Engel? Ich schreie, ich will nicht mehr erwachsen sein, ich will hier raus, ich will so sehr hier raus hier raus hier raus hier raus …
    Irgendwann habe ich keine Luft mehr zum Schreien. Auch meine Tränen versiegen. Mein Kopf dröhnt, meine Augen sind geschwollen. Da höre ich Schritte. Jemand nähert sich. Ich weiß nicht, ob ich rufen soll oder lieber nicht? Wer ist das? Der Teufel, der zurückkommt, oder jemand anders, der mir helfen kann? Schreien oder nicht? Entweder – oder? Etwas kratzt an der Kiste. Ein Stöhnen dringt aus meiner Brust. Die Kiste zittert, als sich jemand an ihr zu schaffen macht. Dann fällt Licht herein. Geblendet schließe ich die Augen. Als ich sie wieder aufmache, sehe ich den Teufel, in seiner Faust baumelt ein Hase. Seltsam schlaff hängen die Pfoten herab. Das Gesicht des Teufels verzieht sich zu einem Grinsen.
    »Raus da«, sagt er. »Oder hast du keinen Hunger?«

Der Computer sieht mich an, als sage er »Na Alter, willst du es nicht mit mir probieren?« Das Filmteam ist nach Hause gefahren, doch die Dreharbeiten sind nicht vorbei. Wenn mein Arbeitsvertrag in Kaprun beendet ist, will die Regisseurin mit mir dorthin fahren, wo der Wohnwagen stand. Warum bin ich nicht überrascht? Dort wollen alle hin, der Ort zieht sie magisch an, als ob es außer Gestrüpp und Gerümpel doch noch etwas gibt, das man der Welt zeigen kann. Doch alles, was man der Welt zeigen könnte, befindet sich drinnen in meinem Kopf. Leider kann dort kein Kameramann reinfilmen. Nur ich kann reinsehen; nur ich kann ans Tageslicht befördern, was im Verlies liegt. Deshalb sieht mich der Computer so herausfordernd an. Er weiß, dass ich nicht schlafen kann, die alte Schlaflosigkeit hat mich wieder, obwohl die Dreharbeiten anstrengend sind und meine Schicht danach nicht weniger. Jetzt bin ich schlaflos und hätte hier in Kaprun eine Menge Möglichkeiten, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Es gibt Diskotheken, Kneipen, Restaurants, es gibt meine Kollegen, die noch einen trinken wollen. Aber ich schütze Müdigkeit vor, dabei bin ich hellwach. Etwas geistert durch meinen Kopf; es fiel mir ein, als die Regisseurin von der Kiste sprach. Als sie erzählte, wie Adam G. zwanzig Steine draufpackte, damit ich nicht rauskonnte. Damit weckte sie eine Erinnerung, und ich weiß, ich sollte sie aufschreiben, aber ich traue mich nicht. Diese Erinnerung war über zwanzig Jahre lang verschüttet, aber jetzt ist sie wieder da. Ich will sie nicht verlieren, obwohl mir auch das nicht unlieb wäre.
    Immer wieder entweder – oder.
    Immer wieder die Gegensätze.
    Die sind manchmal nicht leicht zu ertragen. Ich zünde mir eine Zigarette an, setze mich an den Computer und setze den Cursor auf das Facebook-Icon. Plötzlich gebe ich mir einen Ruck, und der Cursor bewegt sich auf die Datei »Meine Erinnerung«. Ich klicke sie an, sie öffnet sich, und meine Hände auf der Tastatur bewegen sich wie von selbst. Ich bin zwölf Jahre alt, schreiben meine Hände. Es ist drei Jahre nach der Entführung. Im Schuljahr meiner Befreiung bin ich sitzen geblieben, weil ich ein paar Monate verpasst habe. Jetzt

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