Schockgefroren
Spätestens dann tue ich alles, was er sagt. Also ohrfeigt er mich. Also hält er mich hoch und lässt mich fallen.
»In die Kiste!«, befiehlt er.
Ich weine. Ich habe mir so fest vorgenommen, nicht mehr zu weinen, aber jetzt tue ich es doch. Ich will nicht in die Kiste. Ich will auch nicht mehr erwachsen sein. Alles begann so vielversprechend seit meinem »Guten Morgen«, aber jetzt ist alles wieder beim Alten. Nein, schlimmer. Ich soll in eine Kiste, die viel zu klein ist. Wenn ich es nicht tue, wird er mich totschlagen. Er braucht nicht mal einen Stein dazu, er kann mich hochheben und gegen die Wand werfen. Das fällt ihm nicht schwer. Er kann mir mit der Faust auf den Kopf hauen. Das fällt ihm noch leichter. Er kann mich auf jede erdenkliche Weise dazu zwingen, in die Kiste zu kriechen.
»Rein mit dir«, sagt er. »Ich muss weg.«
Ich weine und krieche in die Kiste. Ich muss die Beine anziehen. Ich muss die Arme anwinkeln. Mein Kopf stößt gegen die Bretter. Meine Knie drücken gegen Holz. Meine Ellbogen drücken dagegen. Meine Arme liegen eng an meiner Brust. Es wird dunkel um mich. Er schließt die Kiste. Ich höre, wie er etwas Schweres drauflegt. Noch etwas. Noch etwas. Er baut einen Turm darauf. Ich weine noch mehr.
»Heul nicht«, ruft er. »Du verbrauchst nur deine Luft.«
Ich weine noch mehr.
»Wenn du nicht aufhörst«, sagt er, »schlag ich dich grün und blau.«
Entweder.
Oder.
Ich kann aber nicht aufhören. Weil ich so laut weinen muss, höre ich nicht, wie er den Wohnwagen verlässt. Als mein Weinen endlich nachlässt, ist es unheimlich still.
Ich rufe: »Hallo?« Ich rufe: »Ist jemand da?«
Keiner antwortet. Jetzt schreie ich ganz laut, nein, das stimmt nicht, ich setze nur dazu an, ganz laut zu schreien. Aber ich traue mich nicht. Ich bin schließlich erwachsen. Weil ich erwachsen bin, denke ich daran, dass er mir vielleicht eine Falle gestellt hat. Was ist, wenn er draußen steht und lauscht? Wenn er nur darauf wartet, bis ich schreie, damit er mich grün und blau schlagen kann? Der Schrei erstirbt in meinem Mund. Ein kurzes Krächzen, und ich bin stumm. Ich bin stumm wie ein Fisch, weil ich weiß, dass ich in der Kiste nicht schreien und heulen darf. Nur ganz leise vor mich hinweinen, was man draußen nicht hören kann. Das tue ich. Ich weine leise vor mich hin. Um mich herum ist es dunkel, und dann kommt es mir so vor, als ob es noch dunkler wird. Geht das? Kann es dunkler als dunkel werden? Ja, das geht. In einer Kiste geht das.
Ich liege im Dunkeln und lausche, ob er zurückkehrt, um mich grün und blau zu schlagen.
Ich fahre kein Ski, weil ich Höhenangst habe. Mich von den Gipfeln der Großglocknergruppe, vom Kitzsteinhorn oder dem Maiskogel auf steilen Abfahrten in die Tiefe stürzen? Nein, danke! Seit ich in Kaprun bin, war ich einmal am Stausee Wasserfallboden, um nach den Haien zu sehen, die es dort nicht gibt, und allein das war für mich schon ein gewagtes Unternehmen. Der Ort selbst liegt knapp 800 Meter über dem Meeresspiegel im Tal der Kapruner Ache, und diese Höhe genügt mir völlig. Als daher das Filmteam auftaucht und fragt, wo wir drehen können, sage ich, überall, nur nicht dort oben. Also drehen wir auch nicht dort oben, selbst wenn der Kameramann immer wieder sehnsuchtsvolle Blicke auf die schneebedeckten Berge wirft. Wir drehen im Hotel. Die Regisseurin meint, ich solle einfach tun, was ich immer tue, und dabei so sein, wie ich immer bin. Das ist gar nicht so einfach, wenn eine Kamera auf einen gerichtet wird. Ich fühle mich beobachtet, wie Adam G. mich beobachtete: mit diesem starren, unerbittlichen Blick. Die Kamera folgt jeder meiner Bewegungen, wie er es auch tat. Wie kann ich da so sein, wie ich bin? Vor allem, wie bin ich eigentlich? Diese Frage stellt man sich, wenn einen jemand dazu auffordert, so zu sein, wie man immer ist.
Aber ich gebe mir Mühe. Ich bin schließlich der höfliche und zuvorkommende Sascha Buzmann. Für die Dreharbeiten ziehe ich ein frisches Hemd an. Darüber die schwarze Samtweste mit dem Logo des Hotels, wobei sich die Regisseurin nicht sicher ist, ob sie dieses Zeichen im Bild haben will. Die rote Krawatte knote ich mit einem Windsor-Knoten, dessen zahlreiche Windungen ich im Schlaf beherrsche. Drunten in der Gaststube sitzt eine lustige Männergruppe, die auffallend still wird, als das Filmteam eintritt. Sie sollen so sein, wie sie immer sind, fordert die Regisseurin die Männer auf, aber sie werden trotzdem nicht
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