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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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aufzustoßen.
    Und das mir.

Ich bin neun Jahre alt und weiß, Gott hat mir ein Angebot gemacht:
Es gibt die Welt der Schatten, die gedämpfte Welt, und wenn ich will, kann ich dort hingehen. Und es gibt die Welt der Zwiebeln, des Teufels in Männergestalt, wo Schmerzen und Kälte und Hunger und Durst sind. Und der Pimmel. Beide Welten stehen mir offen. Weshalb fällt es so schwer, mich zu entscheiden? Weshalb fällt es mir schwer, in die Welt der Schatten hinüberzugleiten? Etwas in mir wehrt sich dagegen. Dabei hat die Welt der Zwiebeln nichts, was mich lockt. Außer das eine.
    Außer die Hoffnung.
    Etwas in mir glaubt noch immer daran, dass alles nur ein Alptraum ist. Der irgendwann zu Ende gehen muss. Irgendetwas glaubt noch immer daran, dass ich zuhause aufwachen werde, bei Mama und Papa, meinen Schwestern, meinem Bruder; dass ich wieder zur Schule gehe und Geburtstag habe und Geschenke bekomme. Ich merke, wie mir allein beim Gedanken daran Tränen über die Wangen laufen. Von weit weg dringt die Stimme an mein Ohr, die verlangt, dass ich verdammt nochmal mit Heulen aufhören soll, sonst …
    In diesem Augenblick wird es hell im Wohnwagen. Etwas kommt herein, und es kommt nicht durch die Tür. Es dringt nicht durch die Wand, es ist einfach da. Es schimmert und strahlt, aber ich bin nicht geblendet, muss die Augen nicht schließen; es ist ganz anders, als wenn man in die Sonne schaut, auch wenn es ebenso hell ist. Es ist eine hohe Gestalt mit scharfen Umrissen. Ihre Stimme habe ich schon einmal gehört, einmal in Calpe und einmal auf dem Feld. Und jetzt wieder.
    »Hör auf zu weinen«, sagt die Stimme. Sie ist gleichzeitig hoch und tief und alles dazwischen. Sie ist in meinem Kopf.
    Ich sage, ich kann das nicht, es passiert einfach, ich kann nicht aufhören mit Weinen. Ich sage, vielleicht lässt der Mann mich gehen, wenn ich weine.
    »Das tut er nicht«, antwortet die Stimme. »Es gefällt ihm, wenn du weinst. Es macht ihn härter. Es gibt ihm Macht.«
    Ich weine auch jetzt, spüre Tränen über meine Wangen laufen. Ich frage: Bist du ein Engel?
    »Ich bin alles«, sagt die Stimme. Ich kann sehen, wie mich die Gestalt berührt. An der Stelle beginnt mein Körper zu schimmern. Ein seltsames Gefühl durchströmt mich, wie ich es noch nie hatte und für das ich keine Worte finde. Unvermittelt höre ich auf zu weinen.
    »Du musst erwachsen werden«, sagt das Wesen. »Und dich wie ein großer Junge benehmen.«
    Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege, antworte ich, und das Wesen sagt: »Doch. Du schaffst das.«
    Dann verschwindet das Licht. Es ist, wie wenn ich langsam die Augen schließe, und vielleicht tue ich das auch. Jedenfalls wache ich auf einmal auf. Ich merke, dass ich allein im Bett bin, nicht zuhause, sondern im Wohnwagen. Ich setze mich auf. Ich sehe den Mann am Ofen stehen.
    »Guten Morgen«, sage ich.
    Er fährt herum. Für eine Weile starrt er mich aus kalten, glanzlosen Augen an. Es arbeitet in ihm, er braucht lange, bis er antwortet.
    Dann sagt er: »Was ist los mit dir? Du heulst ja gar nicht.«

2. Überleben
    Ich bin auf der Hut.
Der Mann ist wie ausgewechselt, und es scheinen zwei Worte gewesen zu sein, die diese Änderung hervorriefen: Guten Morgen.
    Wie konnte ich wissen, dass nie jemand »Guten Morgen« zu ihm gesagt hat? Wie konnte ich wissen, dass Kinderweinen eine Abwehrhaltung in ihm auslöst, der er nur mit Schlägen begegnen kann? Nein, ich konnte das nicht wissen, ich war neun Jahre alt. Aber ich konnte es fühlen . Der Engel, der ins Zimmer getreten war – für mich besteht kein Zweifel daran, dass es ein Engel war –, gab mir den Auftrag, erwachsen zu werden. Wie wird man als Neunjähriger erwachsen, und das von heute auf morgen, von jetzt auf nachher? Wie wird man zum großen Jungen, wenn man 1,33 Meter misst und täglich vergewaltigt wird? Darauf gibt es keine Antwort, die in Büchern steht. Dafür gibt es keine Schulen. Es gibt keine Lehrer und keine Ratgeber dafür. Es gibt nur das Selbst. Und dieses Selbst weiß, dass ich es schaffen muss, erwachsen zu werden, wie auch immer, sonst werde ich sterben.
    Also frage ich mich: Wie stelle ich es an? Indem ich nachdenke, so wie es meine Lehrer verlangen: »Denk doch erst mal nach«, sagen sie, wenn ich eine falsche Antwort gebe. Oder wie es mein Papa und meine Mama sagen: »Mensch Sascha, denk doch erst mal nach und handle dann.« Das tun die Erwachsenen, zumindest behaupten sie das. Immer erst denken und dann handeln. Soll ich das tun?

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