Schockgefroren
Kann ich denken wie ein Erwachsener? Als ich »Guten Morgen« sagte, habe ich doch gar nicht nachgedacht. Ich habe es einfach getan. Ich habe gefühlt , dass es richtig ist. Ich glaube nicht, dass Nachdenken mich hier lebend rausbringt. Aber das will ich. Das will ich unbedingt. Das will ich mehr als alles andere. Ich will leben, ich will nicht sterben, das sage ich mir jeden Tag zehnmal, hundertmal, tausendmal. Lieber Gott, lieber Engel, mach, dass ich nicht sterben muss! Mach, dass ich leben kann! Und manchmal kommt es mir vor, als weht ein schwaches Echo zu mir zurück: Wenn du wirklich willst, wird es geschehen.
Also geht es darum? Dass ich es wirklich will? Hat Gott mir das als Prüfung aufgegeben? Gott ist dauernd in meinem Kopf, weil ich mich frage, warum ich? Was ist an mir anders, dass der Mann mich geschnappt hat? Wieso hat er sich mich ausgesucht?
Der Mann starrt mich noch immer an. »Du heulst nicht«, wiederholt er, als spräche er von einem Wunder. »Nein«, antworte ich. »Ich heule nicht.«
Ich stehe auf, obwohl mir alles wehtut. Aber ich zeige es nicht. Kein Heulen mehr! Erwachsen sein! Ich bin noch kein Mal aufgestanden, seit ich hier bin, es sei denn, der fremde Mann hat mich mit sich gezerrt. Er steht am Ofen und sieht mir zu, irgendwie scheint er nicht zu wissen, was er damit anfangen soll. Ich tappe auf unsicheren Beinen durch den Wohnwagen, als sähe ich alles zum ersten Mal, und in gewisser Weise ist es auch so. Da steht ein Tisch auf wackligen Beinen, darauf liegt eine Menge Papier. Es sind Briefe. Es sind Rechnungen. Bei uns zuhause liegen diese Dinge auf dem Wohnzimmertisch herum, bis Papa dazu kommt, sich darum zu kümmern, und die Sachen in einen Ordner steckt. Hier steckt nichts in einem Ordner. Hier liegt alles auf dem Tisch und auf dem Boden. Ich schaue mir die Rechnungen an. Ich lese einen Namen, ich lese immer wieder denselben Namen. Der Name des Mannes. Der Name meines Entführers. Der Name des Teufels.
Der Name des Teufels lautet Adam Geist.
Die Ironie darin wird mir erst viel später auffallen. Dass der Teufel den Namen des Erbsünders trägt, bleibt mir als Kind verborgen. Dass sein Nachname sein Verhalten widerspiegelt, ebenfalls.
Ich denke nichts, ich weiß nichts, ich fühle nur. Deshalb sage ich: »Bist du Adam G.? Ist das dein Name?« Wieder reagiert der Mann seltsam. Er, der stundenlang vor sich hinbrabbeln kann, verstummt völlig. Er, der mit großer Ausdauer die Wände seines Wohnwagens anbrüllen kann, sich selbst und mich dazu, schweigt. Habe ich mich getäuscht? Heißt er nicht Adam G.? Ist er verwirrt und fragt sich, wer wohl dieser Adam G. ist? Dessen Briefe und Rechnungen auf seinem Tisch liegen?
Nein, es ist anders, aber davon ahne ich nichts. Es ist dasselbe wie bei meinem »Guten Morgen«. Es ist lange, lange her, dass ihn jemand mit seinem Namen angesprochen hat. In seinem Kopf muss die alte Erinnerung daran erst zurückkehren. Da war doch mal was. Ja, da war was, Adam G., das bin ich.
Jetzt lächelt der Mann sogar ein wenig. Ein Zucken um den Mundwinkel. So etwas gab es auch noch nicht. Bisher gab es nur Schläge, seinen Pimmel und verkohlte Zwiebeln. Jetzt gibt es auf einmal ein Lächeln. Der Mann holt Luft. Er sagt: »Du kannst Adi zu mir sagen. Ja, sag Adi zu mir.«
Die Frau am Telefon ist nett. Sie sind alle nett, diese Journalisten, die sich auf einmal für mein Leben interessieren. Ich sage, ich bin mir nicht sicher, ob ich mich in einem Film sehen will, und sie antwortet, das kann sie gut verstehen. Die Journalisten können alles gut verstehen. Doch sie wissen auch, was sie wollen, und die Frau am Telefon will einen Film. Sie erklärt mir, wie sie ihn sich vorstellt und welche Fragen sie darin klären möchte. Die Sache scheint sich nicht allzu sehr von der Arbeit am Artikel zu unterscheiden, mit der Ausnahme, dass ich vor einer Kamera agieren muss. Ich stand noch nie vor einer Kamera und weiß nicht, ob ich das kann. Die Regisseurin beruhigt mich. Das kriegen wir schon hin, meint sie, wir können alles so lange wiederholen, bis wir zufrieden sind.
»Ich bin in Kaprun«, sage ich, als ob sie es nicht wüsste. Auch das ist kein Problem. Das Filmteam reist nach Kaprun, und wenn es meinem Chef nichts ausmacht, wenn sie im Hotel drehen, würden sie dort gerne ein paar Bilder meines normalen Lebens einfangen.
Vor ein paar Wochen wäre mir der Ausdruck »meines normalen Lebens« nicht aufgefallen. Jetzt, wo die Tür zum Verlies geöffnet ist, wenn
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