Schockgefroren
wie die Pest: das Nachdenken. Das Grübeln. Es ist 25 Jahre her, ein Vierteljahrhundert, es ist alles schon nicht mehr wahr. Ich habe die ganze Sache so schön vergessen, und auf einmal sollen alte Wunden aufgerissen werden. Sollte ich mich nicht doch schleunigst nach Österreich aufmachen? Das Telefon reißt mich aus den Gedanken. Der Reporter ist dran. Er will sich mit mir unterhalten. Fragen möchte er stellen. Ob das bei mir zuhause geht? Er will wissen, ob er vorbeikommen darf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich seine Fragen beantworten möchte. Ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher, ob es eine gute Entscheidung war, »Ja« zu diesem Artikel zu sagen.
»Was für Fragen haben Sie denn?«, will ich wissen.
»Fragen zur Entführung. Wie alles war. Was danach geschah.«
»Ich kann mich an kaum etwas erinnern«, sage ich. »Ich war neun Jahre alt. An was erinnern Sie sich aus dieser Zeit?«
Für einen Moment herrscht Stille in der Leitung. Dann sagt er: »An wenig. Aber ich habe Fotos. Vielleicht hilft das. Ich würde auch gerne mit Ihnen zum Ort des Geschehens fahren.«
Zum Ort des Geschehens. Das ist der allerletzte Platz auf dieser Welt, an den ich zurückkehren möchte. Dabei ist der Ort des Geschehens gar nicht weit entfernt; er liegt hinter dem nächsten Höhenzug Richtung Rhein. Mit dem Auto ist man in zwanzig Minuten dort. Doch in meinem Kopf ist dieser Ort so weit weg, als befände er sich in einer anderen Welt. Und so ist es auch. Alles, was damals geschehen ist, stammt aus einer anderen Welt. Ich habe sie von meiner heutigen Existenz abgespalten. Wie hätte ich sonst weiterleben können?
Doch da ist noch etwas anderes: die Gewissheit, dass es auf die Dauer so nicht weitergehen kann. Tief in mir spüre ich, wie die Vergangenheit rumort und ich mich ihr früher oder später stellen muss. Ich kann nicht länger so tun, als sei nichts geschehen. Vielleicht hat der Reporter recht? Vielleicht kommen einige Erinnerungen zurück, wenn ich mir ein paar alte Fotos ansehe? Vielleicht bringt es sogar etwas, an den Ort des Geschehens zurückzukehren? Noch während ich darüber nachgrüble, erscheint ein Bild in meinem Kopf. Die Kiste. Ich habe die Kiste vergessen, doch auf einmal ist sie da. Die Kiste, in die er mich sperrte, wenn er wegging. Ich spüre, wie meine Handflächen feucht werden.
»Haben Sie auch Fotos von der Kiste?«, frage ich unvermittelt ins Telefon. Ich warte die Antwort nicht ab. »Bringen Sie alles mit, was Sie haben. Ich bin zuhause. Ich warte.«
Die wilde Hatz geht weiter.
Der fremde Mann stürmt voran und zerrt mich mit sich. Ihm scheint die Kraft nie auszugehen, aber ich weiß nicht, wie lange ich mich noch auf den Beinen halten kann. Mein Bauch tut weh vor Hunger, mein Gaumen ist völlig ausgedörrt. Ich habe so großen Durst, dass ich versuche, Schneeflocken mit dem Mund aufzufangen. Es gelingt mir nicht, weil ich nicht stehen bleiben darf. Mittlerweile ist es noch kälter geworden, und über mein Gesicht zieht sich eine Eisschicht aus gefrorenen Tränen. Während ich vorwärtsstolpere, sehe ich am Horizont einen orangefarbenen Schein. Ich weiß nicht, ob es der anbrechende Morgen ist oder die Lichter einer Stadt. Wir scheinen uns einer Gegend zu nähern, in der Menschen wohnen. Schwach flammt in mir neue Hoffnung auf. Vielleicht sieht uns ein Erwachsener und stellt den fremden Mann zur Rede. Aber ich habe kaum mehr die Kraft, mich an diesen Gedanken zu klammern.
Vor uns liegt eine Straße. Wir verharren im Straßengraben. Der Mann zieht den Kopf ein, als ein Auto vorbeifährt. Mich drückt er fest an sich. Er schaut nach links, nach rechts, springt auf, zieht mich mit auf die andere Seite. Dort geht es weiter über ein Feld, doch nur ein kurzes Stück. Auf einmal liegt ein Pfad vor uns. Dahinter kann ich Gebüsche und Bäume erkennen und etwas, das ein kleines Haus sein kann. Ein hoher Zaun aus Maschendraht trennt uns von diesem Grundstück.
»Wir sind da!«, sagt der Mann.
Wir gehen am Zaun entlang und kommen zu einem Tor. Es ist abgeschlossen, und der Mann fingert in den Taschen nach einem Schlüssel. Als er ihn nicht findet, fängt er an, vor sich hin zu schimpfen, ohne dass ich ihn verstehe. Eine Weile steht er unschlüssig vor dem Tor. Dann sagt er: »Du musst drüberklettern.«
Das dürfen wir sicher nicht, denke ich, das ist doch nicht dein Grundstück! Da packt er mich schon und hievt mich gleich neben dem Tor über den Zaun. Ich wiege dreißig Kilogramm, und mir fällt
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