Schockgefroren
weitergehen kann. Ich stolpere und falle auf die Knie. Der fremde Mann bleibt stehen.
»Weiter!«, drängt er. Ich schüttle den Kopf. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Er soll mich gehen lassen. Ich möchte nach Hause. Das kann ich aber nicht sagen, denn ich kriege kein Wort über die Lippen. Ich sehe, wie der Mann sich umdreht. Lässt er mich jetzt in Ruhe? Kapiert er, dass ich nicht zu ihm gehöre, dass ich nichts, aber auch gar nichts, mit ihm zu tun haben will? Geht er seines Weges und lässt mich hier zurück? Auch das macht mir Angst, denn mittlerweile weiß ich überhaupt nicht mehr, wo wir sind. Bis Hochheim kannte ich mich aus, doch auch diesen Ort haben wir in großem Bogen umgangen. Hier war ich noch nie. Aber egal. Alles ist besser, als mit diesem schrecklichen Kerl mitgehen zu müssen. Irgendwie finde ich schon nach Hause. Wenn es hell wird, werde ich einen Weg finden, der mich zu einer Straße führt, und dort sind dann Leute, die Papa anrufen. An das denke ich, und so etwas wie Hoffnung keimt in mir auf. Noch immer starrt der Mann in die entgegengesetzte Richtung. Dann packt er mich am Arm.
»Da geht’s lang«, sagt er. Er reißt mich hoch, und ich stehe wackelig auf den Beinen. »Wenn du schreist, passiert was«, droht er.
Wieder durchzuckt mich der Gedanke, dass ich sterben muss. Vielleicht hier auf dem Feld, vielleicht in den nächsten Minuten? Oh Gott, was habe ich bloß getan? Ich habe doch gar nichts getan! Fieberhaft denke ich darüber nach, ob ich in letzter Zeit etwas ausgefressen habe. Habe ich jemand einen schlimmen Streich gespielt, und das ist jetzt die Strafe dafür? Aber ich kann mich an nichts erinnern. Da war nichts, da war wirklich nichts, das musst du mir glauben, lieber Gott! Auf einmal muss ich wieder weinen, auch wenn ich weiß, dass der fremde Mann das nicht leiden kann. Aber es geht nicht anders. Tränen strömen aus mir heraus. Auch als er mich anherrscht, ich soll endlich aufhören damit, schaffe ich es nicht. Auch wenn er mich schlägt, auch wenn er mich mit einem Stein erschlägt, auch wenn ich jetzt sterben muss, ich kann einfach nicht aufhören.
Doch dieses Mal schlägt der Mann nicht zu. Er fängt an zu laufen. Er umklammert meinen Arm und marschiert mit großen Schritten los. Er ist stark, und wenn ich nicht will, dass er mich wie einen Sack hinter sich herschleift, muss ich mich auf den Beinen halten. Ich muss vier Schritte machen, wenn er bloß einen macht, und ich weiß nicht, ob ihm aufgefallen ist, dass ich ein Kind bin! Ein Kind! Auf einmal merke ich, wie ein trotziges Gefühl in mir aufsteigt und ich ihn anschreien will: Ich bin ein Kind! Lass mich nach Hause gehen, du hässliches, stinkendes Ungetüm! Wieder bleibt er stehen, und ich stoße gegen ihn. Mit beiden Händen packt er mich. Hat er meine Gedanken erraten? Er beugt sich zu mir hinab, und sein struppiger Bart kratzt über mein Gesicht.
»Geh weiter«, sagt er. »Oder es setzt was.« Das sagt er ganz leise. Ich habe auf einmal furchtbare Angst. Diese Angst ist eiskalt und macht sich in meinem Körper breit. Ich fange an zu zittern. »Es setzt was«, wiederholt der Mann. »Ist das klar?«
Auf einmal weiß ich, dass sich in diesem Moment alles entscheidet. Gelingt es mir nicht, mich zusammenzureißen, wird er mich umbringen. Gleich hier, gleich auf dem Feld. Ich bin erst neun Jahre alt, aber in diesem Augenblick weiß ich, dass mein Leben im nächsten Moment zu Ende sein kann.
Die Zeit ist zum Stillstand gekommen. Das gab es bei mir schon lange nicht mehr, dass ich zuhause sitze und nachdenke . In den letzten Jahren bin ich rastlos von Job zu Job gehastet. Die Arbeit im Service macht mir Spaß, ich halte mich gerne in Hotels der gehobenen Klasse auf. Sie entsprechen meinem Anspruch an Sauberkeit und Gediegenheit, sie vermitteln mir das Gefühl, zuhause zu sein, ohne mich binden zu müssen. Dort treffe ich Menschen, die ebenso viel Zeit in Hotels verbringen oder gleich dort wohnen. Udo Lindenberg macht das; vielleicht, weil er wie ich von Beruf Kellner ist; vielleicht auch, weil er sich ebenfalls nicht binden will. Mich an etwas oder an jemanden binden, fällt mir unendlich schwer. Egal, ob es sich um einen Job oder eine Freundin dreht: Nach spätestens drei Monaten werde ich unruhig und ziehe meines Weges. Auf diese Weise komme ich ganz schön rum.
Doch jetzt ist alles anders. Ich sitze zuhause und warte darauf, dass sich der Reporter meldet. Auf einmal beginnt bei mir, was ich sonst meide
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