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Schockgefroren

Schockgefroren

Titel: Schockgefroren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Buzmann
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ein, wie stolz ich vor ein paar Tagen darauf war, als Mama mich wog und keine »2« mehr auf der Skala auftauchte. Dreißig Kilogramm erschienen mir wie ein enormes Gewicht, doch für den fremden Mann scheint es gar nichts zu sein. Mühelos hebt er mich hoch. Als ich mich oben am Zaun festklammere, reiße ich mir am Stacheldraht die Hand auf. Ich schreie, der Mann schubst mich, ich falle auf die andere Seite hinab. Als ich mich aufrapple, sehe ich, wie er mich durch den Maschendraht anstarrt. Auf einmal denke ich, hau ab, lauf davon, das ist deine letzte Chance! Lauf, so schnell du kannst! Vielleicht kannst du dich verstecken! Gerade will ich den Gedanken in die Tat umsetzen, da sagt der Mann: »Alles ist eingezäunt. Du kommst da nicht raus.«
    Mit einem Satz ist er oben am Zaun. Er zieht sich hoch und schwingt ein Bein darüber. Einen Moment später landet er neben mir im Gras. Sofort packt er mich an der Schulter, dreht mich um, stößt mich vor sich her.
    »Da lang«, sagt er. Wir schlagen die Richtung zu dem ein, was ich für ein kleines Haus gehalten habe. Es ist kein Haus. Es ist eine Art Wohnwagen, aber nicht so, wie ich Wohnwagen kenne. Dieser hier sieht vergammelt aus. Ich kann keine Räder erkennen, weil alles mit Brettern vernagelt ist. An der Seite lehnt ein schiefer Holzschopf. Das Dach des Wohnwagens ist gewölbt wie bei einer Tonne, und irgendwie erinnert mich das ganze Ding daran: an eine überdimensionale Mülltonne, die jemand umgestoßen hat, um dort, wo die Öffnung ist, eine Tür anzubringen.
    Vor dieser Tür stehen wir. Wieder fummelt der Mann in seinen Taschen herum. Sein Mund verzieht sich zu einem Grinsen, als er einen Schlüssel herausholt. Während er mich mit einer Hand festhält, versucht er mit der anderen, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und umzudrehen. Ich höre ein kratzendes Geräusch. Die Tür klemmt, der Mann stößt mit dem Fuß dagegen. Auf einmal geht sie auf. Ich starre in ein dunkles Loch, aus dem ein übler Gestank von Fäulnis und Moder dringt.
    Nein!
    Ich will da nicht rein!
    Auf keinen Fall will ich da rein!
    Der Mann gibt mir einen Stoß, ich stolpere vorwärts. Hinter mir kracht die Tür zu. Schwärze umgibt mich. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun. Bin ich alleine? Ist der Mann draußen geblieben? Hat er mich nur eingesperrt?
    Aus der Dunkelheit ertönt seine Stimme: »So«, sagt er. »Und jetzt ziehst du dich aus.«

»Was für Fragen möchten Sie denn stellen?«, hatte ich den Reporter gefragt, und die Antwort war gewesen: »Zur Entführung. Wie das alles war. Und was danach geschah.« Als er kurze Zeit später bei mir eintrifft, schlägt mir das Herz bis zum Hals. Es geht mir gar nicht darum, wie unglaublich schamvoll und schmerzhaft es sein wird, Fragen, »wie das alles war«, zu beantworten. Vielmehr quält mich, dass ich mich an vieles nicht erinnern kann. Was ist, wenn ich immer wieder sagen muss: Keine Ahnung, es ist, als sei ich nicht dabei gewesen? Wird er dann irgendwann sauer werden? Ich weiß ja nicht, wie Journalisten arbeiten. Ich weiß nichts über den Reporter. Unser erstes Treffen war nur kurz gewesen. Erst später bekomme ich mit, dass der Mann 1994 beim Internationalen Publizistikwettbewerb der Stadt Klagenfurt den Preis des Landes Kärnten erhalten hat. Und seither zu den Besten seines Fachs gehört. Was ich ebenfalls nicht weiß: Er stammt aus derselben Stadt wie ich, aus Wiesbaden.
    Als es an der Tür klingelt, öffne ich und bitte meinen Gast herein. Der Reporter sieht sich aufmerksam um. Dann setzt er sich. Wir plaudern ein wenig. Er sagt, dass er es sich gut vorstellen kann, welch ein großer Schritt das für mich ist. Ich denke, er meint es ehrlich. Ich schätze ihn auf Mitte 50 – tatsächlich ist er zum Zeitpunkt seines Besuches schon 65 Jahre alt. Er wirkt auf mich, als kenne er das Leben. Jetzt fragt er, ob er mir ein paar Bilder zeigen darf, und ich nicke. Er fängt behutsam an: Fotos von meinen Eltern, aufgenommen während und nach der Entführung. Wie jung sie noch waren! Andere Bilder zeigen unser Haus. Auf einmal liegt ein Foto vor mir, auf dem der Wohnwagen zu sehen ist. Ich starre darauf, und langsam, wie aus einem Schleier, formt sich eine Erinnerung in meinem Kopf. Mein Entführer und ich stehen vor dem Zaun. Er schubst mich darüber. Er öffnet eine Tür. Ich stehe vor einem schwarzen Loch.
    »Ich hatte so eine Scheißangst«, sage ich zum Reporter. Für eine Zeit lang herrscht

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