Schockgefroren
Stille in meiner kleinen Wohnung. Nach einer Weile fragt er: »Ich würde gerne ein bisschen mehr wissen. Darf ich unser Gespräch aufnehmen?«
In diesem Augenblick kommt es mir vor, als ob ich wieder vor diesem schwarzen Loch stehe. Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren, als ich antworte: »Warum nicht? Nehmen Sie ruhig alles auf.«
Noch immer stehe ich wie angewurzelt im Dunkeln.
Auf einmal flammt Licht auf. Unwillkürlich presse ich die Augen zusammen. Der Mann versetzt mir einen Stoß in den Rücken, ich stolpere vorwärts, reiße die Augen auf, um nicht zu fallen. Ich befinde mich in einem schmalen Flur. Rechts von mir ist eine Schiebetür. Der Mann greift über mich und zieht sie auf. Vor mir liegt ein Raum, in dem es aussieht, als habe darin ein Sturm geherrscht. Noch weiß ich nicht, dass dieser Raum mein Gefängnis sein wird. Vielleicht ist es gut, dass ich nichts davon weiß.
Der Mann schubst mich vorwärts und schließt die Schiebetür hinter uns. Es ist nicht viel Platz. Ich sehe ein Bett, eine Kommode, einen alten Ofen. Überall steht Gerümpel herum. Kleider und Lumpen liegen verstreut auf dem Boden. Ein paar mit Essensresten verschmierte Teller. Bierdosen, Flaschen, Konservenbüchsen. Es stinkt.
Hier soll ich bleiben?, denke ich. Ich kann nicht hier bleiben! Ich kann unmöglich hier bleiben, ich will nicht hier bleiben!
Auf einmal fällt mir etwas ein, was die letzte Kraft aus meinem Körper zieht. Meine Eltern sehen sich immer die Sendung »Aktenzeichen XY … ungelöst« an, und einmal habe ich heimlich mitgeschaut. Womöglich ist dieser Mann einer von denen, die in dieser Sendung gesucht werden?
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, drehe mich um und sage: »Meine Eltern haben kein Geld für Lösegeld.«
Sein Anblick erschreckt mich zutiefst. Der Mann starrt mich aus kleinen Augen an, die tief in den Höhlen liegen. Seine Haare sind durch den Schnee nass und kleben am Kopf. Eiszapfen hängen in seinem wirren Bart. Er hat die Hände tief in die Taschen des Mantels gesteckt; dort bewegt er sie hin und her, als würde er etwas suchen. Wasser tropft vom Saum seines Kittels auf den Boden. Seine Hose ist alt und schmutzig, die Füße stecken in derben Latschen. Er schweigt, und ich merke, wie unheimlich still es hier ist. Unentwegt starrt er mich an, als würde er über etwas nachdenken. Als sei ich ein Problem, das er lösen kann, indem er mich nicht aus den Augen lässt.
»Ich bin ein Junge«, sage ich noch einmal. Die Worte fallen einfach aus meinem Mund. Irgendwie kommt es mir so vor, als ob dieser Satz etwas mit seinem starrenden Blick zu tun haben könnte. Natürlich weiß er, dass ich ein Junge bin, das weiß er seit dem Augenblick, als er unter dem Gebüsch vor dem Haus meiner Eltern versucht hat, seinen Mund auf meinen zu pressen. Aber wenn ich es ihm noch einmal sage, lässt er mich vielleicht gehen. Ich habe das Gefühl, dass er enttäuscht ist. Vielleicht geht es gar nicht um Lösegeld. Doch um was soll es dann gehen?
»Ich bin ein …«, beginne ich, doch das letzte Wort will nicht mehr über meine Lippen. Das Wort stirbt unterwegs. Wenn es nicht darum geht, Geld von meinen Eltern zu bekommen, warum bin ich dann hier? Eine schreckliche Ahnung steigt in mir hoch. Hat es damit zu tun, dass der fremde Mann mich küssen wollte? Er steht schweigend vor mir und dünstet einen säuerlichen Geruch aus. Sein Blick ist prüfend, wie der eines Lehrers, wenn man an die Tafel muss, um eine schwierige Rechenaufgabe zu lösen. So komme ich mir vor: Ich weiß, dass ich etwas lösen muss, aber ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß, dass der Mann etwas von mir erwartet, aber ich kann nicht sagen, um was es sich dreht. Warum will er, dass ich mich ausziehe? Es ist viel zu kalt hier drin, um sich auszuziehen. Allein der Gedanke daran lässt Übelkeit in mir aufsteigen. Wieder spüre ich meinen brennenden Durst und den leeren Magen. Ich fange an zu zittern, und ich kämpfe vergeblich gegen die Tränen an, die in mir hochsteigen.
»Zieh dich aus«, wiederholt der fremde Mann.
Ich rühre mich nicht von der Stelle. Auch er bewegt sich nicht, keinen Zentimeter. Er schaut auf mich herab, und ich komme mir noch kleiner vor. Dabei bin ich doch 1,33 Meter; bis vor Kurzem war ich stolz darauf, so groß zu sein. Jetzt bin ich es nicht mehr. Es kommt mir vor, als würde der Mann wachsen und ich schrumpfen.
»Zieh dich aus!«
Ich schüttle den Kopf. Meine Kleidung ist klitschnass, und ich würde mich gerne
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