Schön scheußlich
Plünderung erst mit unserem Tod; der Aids-Patient wird bei lebendigem Leib verzehrt.
Aids hat aus diesen Gründen eine Menge Menschen dahingerafft. Ende 1994 waren allein in den Vereinigten Staaten bereits zweihundertfünfzigtausend Menschen daran gestorben. Doch das Elend reicht sehr viel weiter, als es der Stapel von Totenscheinen ahnen lässt. Aids hat unseren Mut so gründlich angekratzt, dass wir kaum mehr bemerken, dass er uns abhanden gekommen ist. Aids hat unseren intimsten Ausdruck der Liebe in etwas verkehrt, das hart an Mord oder Selbstmord zu grenzen scheint. Es war ein Fest für die Sittenwächter, Klatschbasen und Moralapostel unter uns, die Erotik und sexuelle Abenteuerlust schon immer als Übel betrachtet haben und nun für sich in Anspruch nehmen, Wissenschaft und Historie auf ihrer Seite zu wissen. Die konservative Revolution mag zwar bereits vor dem Bekanntwerden der Krankheit begonnen haben - Ronald Reagan wurde 1980 gewählt, ein Jahr, bevor die ersten Berichte über die Krankheit an die Öffentlichkeit drangen - , aber Aids hat die Flammen rechter Gesinnung, des Jahrtausendscheiterhaufens, erst richtig zum Lodern gebracht. Schließlich blieb die Krankheit vor allem auf solche Hochrisikogruppen wie Schwule und Fixer beschränkt - genau die Art von Leuten, die in der öffentlichen Meinung ohnehin schon dämonisiert und an den Rand gedrängt werden. Allen frühen Voraussagen zum Trotz ist die große Masse des heterosexuellen Amerikas im Großen und Ganzen vor der Katastrophe bewahrt geblieben, was neue Nahrung für die bigotte Überzeugung liefert, dass Gott weiß, heterosexuell und vermutlich auch noch Christ ist.
Eine düster-freudlose, neoviktorianische Stimmung macht sich im Aids-Zeitalter ringsum breit. Niemand wird heutzutage sexuelle Freiheit und Leidenschaft als eine Form der Selbstfindung und des Auslebens eigener Bedürfnisse verteidigen. Selbst der outrierteste Künstler wird sich vermutlich als sexueller Puritaner entpuppen. Jungfräulichkeit vor der Ehe ist wieder in Mode - zumindest im Geiste, wenn schon nicht in der Praxis. Menschen, die verzweifelt versuchen, in diesem schwärzesten aller Stürme einen Silberstreif am Horizont auszumachen, erklären, die Bedrohung durch Aids habe sie gelehrt, sich selbst ernster zu nehmen und nach tieferen und substanzielleren Bindungen zu ihrem Partner zu suchen. Das sind schöne Worte, wenn sie dazu beitragen, dass Sie sich besser fühlen. Aber hängen Sie ja nicht Ihr Herz daran! Es gibt eine Menge großartiger Gründe dafür, demjenigen, den Sie lieben, treu zu sein - Angst gehört jedoch nicht dazu. Sie lässt eher noch leichter Geringschätzung aufkommen als vertraute Gewohnheit.
Ich habe nichts als Abscheu für die Krankheit Aids übrig, eine Krankheit, die sich in perverser Weise die Jungen, die Lebenslustigen, die Lichtblicke unseres Lebens aus unserem Umfeld herauspickt. Aids hat Hoffnungen zerschlagen und die Medizin verunsichert. Es hat die kurze Illusion, dass das Zeitalter der Infektionskrankheiten für immer vorbei sei, gründlich zerstört. Auch hat uns die Tragödie einander nicht näher gebracht. Sie hat uns nicht zu neuen Höhenflügen des Großmuts, der Einsicht und des Mitleids inspiriert. Im Gegenteil: Aids hat alte Gräben zwischen den Menschen wieder aufgerissen und noch ein paar eigene hinzugefügt: zwischen Schwulen und Heterosexuellen, Armen und Reichen, zwischen den Entwicklungsländern, in denen die galoppierende Rate neuer HIV-Infektionen längst komplett außer Kontrolle geraten ist, und den Industrienationen, in denen sich die Zahl der Fälle allmählich stabilisiert. Selbst bei den Schwulen wirkt HIV als Trennwall. Es schafft auf perverse Weise Lager und trennt jene, die positiv sind - und damit zurechtkommen, sich ängstigen und bei jeder neuen Bekanntschaft überlegen müssen, zu welchem Zeitpunkt sie ihre Situation am besten offenbaren - , von denjenigen, die negativ sind und dies auch bleiben wollen.
Rod wollte nichts zu tun haben mit dieser neuen Form sozialer Klüngelwirtschaft, dieser neuen Methode der Diskriminierung innerhalb jener Subkultur, deren Teil er war und sich dabei ohnehin schon unsicher fühlte. Er konnte ein fürchterlicher Snob sein und jene verhöhnen, denen seiner Ansicht nach sein Sinn für Ästhetik, sein Wahrnehmungsvermögen und sein giftgetränkter Witz entgingen. Doch das alles war nur Ausdruck schlichter menschlicher Eitelkeit und Unsicherheit - und keine Diskriminierung auf Leben
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