Schön scheußlich
Sicherheitsrisiko, denn wenn das ältere Insekt von einem Vogel entdeckt wird, könnte dieser aus dessen Muster Rückschlüsse ziehen und lernen, das Beutetier von seinem Untergrund zu unterscheiden, sodass hinfort Gefahr für die Jungen bestünde. Man weiß, dass die nicht mehr fruchtbaren ausgewachsenen Tiere sich auf den Boden fallen lassen und intensiv mit den Flügeln zu schlagen beginnen, bis sie vor Erschöpfung sterben. Sie löschen sich selbst und ihr Geheimnis aus, bevor sie geschnappt werden.
Es gibt noch eine Fülle anderer Beispiele für die Selbstaufopferung bei Tieren. Bei einigen Gallmücken - winzigen Insekten - bringt das Muttertier seinem Nachwuchs den eigenen Körper als Nahrung dar, und Letzterer verzehrt diesen genüsslich bis auf den letzten Krümel. Bei den Nacktmullen, unbehaarten, blinden Nagetieren, die unter der Erde leben und miteinander fast so eng verwandt sind wie die Bienen in einem Bienenstock, weiß jedes Tier, was es zu tun hat, wenn es von Parasiten befallen ist: Es wird sich in die Kotecke des Baus begeben und dort warten, bis es stirbt. Sobald dieser Entschluss gefallen ist, bewegt es sich keinen Millimeter mehr. Man kann es nicht einmal unter Laborbedingungen zwangsernähren. Der todkranke Nacktmull wird nicht riskieren, die ganze Kolonie zu infizieren.
Bei ihrer Übertragung der Idee von der Selbstaufopferung zugunsten der eigenen Sippe auf den Menschen berufen sich die Wissenschaftler auf zahlreiche Beispiele: Mütter, die bereitwillig sterben, um ihre Kinder zu retten, Kriegshelden, die sich für ihre Kameraden in die Flammen stürzen, sogar die jüngste Welle sozusagen »vernünftiger« Selbstmorde, Fälle, in denen ältere oder unheilbar kranke Patienten fordern, rasch sterben zu dürfen, um ihren Familien nicht zur Last fallen zu müssen. Wenn es jedoch um das Verhalten von Selbstmordpatienten geht, die psychisch krank sind, die allein im Leben stehen und denen, die sie lieben, in vielen Fällen entfremdet sind, gehen die Forscher weit vorsichtiger mit dieser Art von Argumenten um. Dennoch beobachten Wissenschaftler, dass Menschen, die einen Selbstmord erwägen, dies in vielen Fällen aus völlig selbstlosen Motiven tun. Sie halten ihn im Interesse ihrer Freunde und Familien für die beste Lösung. Menschen, die unmittelbar nach einem ernsthaften Selbstmordversuch mit den Betroffenen gesprochen haben, berichten, dass die Patienten sehr häufig mit altruistischen Erklärungen für ihre Tat aufwarten und den Selbstmord für einen weisen, klugen und überlegten Schritt halten. In diesem Sinn sieht unsere menschliche Version von Selbstmord der Reaktion des Nacktmulls bemerkenswert ähnlich. Wer in Betracht zieht, sich umzubringen, fühlt sich ausgestoßen, unrein, infiziert und hält es womöglich für das Beste, die Krankheitsursache aus der Welt zu schaffen, bevor die davon befallen werden, die ihm nahe stehen.
Natürlich ist die Mehrzahl derjenigen, die einen Selbstmordversuch unternehmen, krank. Die Betreffenden leiden unter einer Gemütskrankheit. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Depressionen oder eine manisch-depressive Erkrankung. Diese Störungen sind durch einen starken Abfall an Neurotransmittern wie Noradrenalin oder Serotonin gekennzeichnet. Beides sind Moleküle, die es Nervenzellen ermöglichen, miteinander zu kommunizieren, und die unter anderem auch zur Regulation von Emotionen und Aggressionen beitragen.
Auch bei Untersuchungen an anderen Primaten haben Wissenschaftler offenbar viele Symptome schwerer Depressionen feststellen können, unter anderem das Nachlassen des Selbsterhaltungstriebs. Die berühmte Schimpansenforscherin Jane Goodall beobachtete einst, dass ein sieben einhalbjähriges Männchen durch den Tod seiner Mutter von einer solch tiefgreifenden Verzweiflung erfasst wurde, dass es ihren Leichnam nicht einmal mehr verließ, um zu fressen. Der Schimpanse siechte langsam dahin, verkroch sich und starb - an gebrochenem Herzen, wie Frau Goodall es formulierte.
Depressionen bei Affen ähneln den unseren nicht nur in verhaltensphysiologischer, sondern auch in biochemischer Hinsicht. An einer wild lebenden Kolonie von Rhesusaffen haben Wissenschaftler festgestellt, dass etwa zwanzig Prozent der Tiere eine Prädisposition für schwere Depressionen besitzen, das entspricht in etwa unserem eigenen Risiko für diese Erkrankung. Die Affen erleben ihren Einbruch, wenn sie einen Verwandten oder Partner verlieren oder wenn ihr sozialer
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