Schön scheußlich
Bedürfnissen ausrichteten.
Je mehr es aus ihr heraussprudelte, umso hilfloser und aufgebrachter fühlte ich mich. Schließlich war mein Zorn stärker als mein besseres Wissen. Ich stand auf und schrie sie an. Ich erklärte ihr, dass nichts und niemand ihr helfen könne. »Der einzige Mensch, der dir helfen kann, bist du selbst!«, fauchte ich in blinder Wut. »Verstehst du mich? Du musst aufhören, so verdammt abhängig von anderen zu sein!« An diesem Punkt stieß sie einen schrillen Schrei aus und kauerte sich auf ihrem Bett zusammen. Das Einzige, was ich mit meiner idiotischen Lektion erreicht hatte, war, dass ich sowohl ihre Hysterie als auch mein Gefühl der Ohnmacht vergrößert hatte.
Meine Großmutter ist achtzig, aber sie wirkt sehr viel älter. Obwohl sie eine Reihe physischer Beschwerden hat – leichter Diabetes, Grüner Star, Asthma, Arthritis - , sind ihre eigentlichen Probleme neurologischer und psychologischer Art. Vielleicht hat sie Alzheimer; vielleicht hat sie auch ein paar kleine, unbemerkte Schlaganfälle gehabt. Ihr Arzt ist sich dessen nicht sicher, und er erklärt, dass die genaue Diagnose, offen gestanden, auch gleichgültig sei: Ihr Zustand sei irreversibel. Klar ist, dass sie es hasst, alt zu sein, dass sie es nicht erträgt, auch nur für Minuten allein zu sein, und dass sie alles tun würde, um sich mit Menschen zu umgeben, insbesondere mit Verwandten, die ihr, als Verwandte eben, ihr Leben verdanken.
Dieser Tage kreisen die Gespräche in der Familie häufig um sie. Was sollen wir mit Großmama machen? In ein Altenheim geben? (Zu grausam.) Eine Betreuerin einstellen? (Zu teuer.) Neue Psychopharmaka ausprobieren? (Es scheint ohnehin nichts zu wirken.) Meine Großmutter fordert nicht nur während des Tages Gesellschaft, sie braucht auch nachts jemanden. Eine andere Frage, die meine Familie ständig umtreibt, lautet daher, wer dran ist, auf Großmamas Sofa zu übernachten. Die bei weitem enervierendste Folge des Ganzen ist das permanente Gefühl von Schuld. Da wir meine Großmutter nicht zufrieden stellen können, sind wir frustriert. Die Frustration veranlasst uns entweder dazu, vor Wut in die Luft zu gehen oder von der Bildfläche zu verschwinden – unreife Reaktionen, die Schamgefühl nach sich ziehen. Wie viel sie auch tut, meine Mutter hat stets die Sorge, nicht genug zu tun. Gleichzeitig beklagt sie sich bitter über die pausenlosen Forderungen ihrer Mutter, die nun einmal von Beleidigungen und Anschuldigungen durchsetzt sind. Die Folge ist, dass meine Mutter meine Großmutter ständig besucht und anruft und dies meist damit endet, dass meine Mutter sie in sinnloser Empörung anschnauzt. Mein Onkel unterdrückt in der Regel seine Gefühle, aber er legt deutlich an Gewicht zu, und man beginnt, ihm seine sechsundfünfzig]ahre anzusehen.
Ich kriege es fertig, die schlimmstmöglichen Optionen in mir zu vereinen. Ich rufe meine Großmutter oft wochenlang nicht an. Wenn ich sie besuche, verfalle ich in die Rolle des Feldwebels. Als Fitness-Fanatikerin erkläre ich ihr, es sei nie zu spät, Sport zu treiben. Ich beachte ihre Tränen nicht. Mitten in einem ihrer aufgebrachten Monologe schnappe ich mir ein Buch und fange an zu lesen. Meine Mutter beschuldigt mich, herzlos zu sein, und sie hat Recht.
Meine Großmutter ist der erste Mensch, den ich habe alt werden sehen. Ich betete sie an. Sie besitzt noch immer die liebevollen Gedichte und Briefe, die ich ihr als Kind schrieb. Sie war stets eine sehr lebhafte, energische Frau. Sie verkaufte Israel-Anleihen und arbeitete endlose Stunden auf Wohltätigkeitsbasars. Geschichten aus ihrem Leben gab sie mit der erzählerischen Fülle eines Isaac Bashevis Singer zum Besten. Wo immer sie auftauchte, hatte sie sogleich Scharen von Freunden – ein Charakterzug, den ich, ein einsames und widerspenstiges junges Mädchen, zutiefst bewunderte.
Doch irgendwann fingen die Härten des Lebens an, sich in erdrückenden Schichten um sie zu legen. Drei Ehemänner hatte sie unverdrossen durch unheilbare Krankheiten hindurch gepflegt, doch als ihre Geschwister – alle älter als sie eines ums andere starben, wurde sie depressiv. Als sie im Jahr 1982 ihre letzte Schwester verlor, kam meine Großmutter fast um den Verstand. Zwar hatte sie noch immer viele Freunde, aber sie forderte immer mehr Zuwendung von ihren Kindern und Enkeln. Sie wurde unglaublich empfindlich, bekam auf verschiedensten Familienfesten Wutausbrüche, so bei der Hochzeit meiner
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