Schön scheußlich
Schwester.
Je schlimmer es um meine Großmutter steht, desto schlimmer ist auch meine Reaktion auf sie geworden. Meine Mutter fleht mich an, Anstand zu zeigen und ab und zu nach ihr zu sehen, und ich flüchte mich in alle möglichen Ausreden, es nicht zu tun. Aber meine Ausflüchte klingen hohl und leer, sogar in meinen eigenen Ohren. Die Wahrheit ist, dass meine Großmutter mir Angst macht.
In meiner Vorstellung habe ich ein pastellfarbenes Bild von der vollkommenen alten Dame: weise und würdevoll, im Frieden mit sich selbst und erfüllt von stillem Stolz auf das Leben, das sie gemeistert hat. Sie verschwendet keine Zeit damit, nach Bestätigung zu verlangen oder die Welt zu verfluchen, sondern widmet sich ihrer Kunst. Sie ist die malende Georgia O'Keeffe, die formende und meißelnde Louise Nevelson, die schreibende Marianne Moore. Oder auch eine weniger berühmte Frau, die liest, Bach hört und die verflossenen Tage zu einem ureigenen Ganzen verwebt.
Natürlich gibt es eine Menge Dinge, die meine Fantasie-Doyenne nicht besitzt. Sie leidet nicht unter Geldmangel, ihre Gelenke schmerzen nicht, und ihr Atem rasselt nicht. Sie verliert weder ihr Gedächtnis noch ihre Sehfähigkeit, noch ihren Verstand. Alles in allem gleicht sie in nichts der alten Frau, die ich am besten kenne.
Ich liebe meine Großmutter. Sie hat noch immer ihre guten Stunden, dann ist ihr Geist flink und klar. Doch unweigerlich bricht sich irgendwann wieder ihre wahnsinnige Verzweiflung Bahn. Sie findet einen neuen Grund, zu weinen, andere zu beschuldigen oder zu intrigieren, und ich finde einen neuen Grund, ihr fernzubleiben.
Ich will auf großartige Weise altern, so wie O'Keeffe und Moore. Ich will in einem halben Jahrhundert ein besserer Mensch sein, als ich es heute mit einunddreißig bin, aber ich habe meine Zweifel, dass es so kommen wird. Wenn ich meine Großmutter anschaue, so zerbrechlich, verängstigt, unglücklich, beseelt von dem Wunsch zu sterben, aber dennoch verzweifelt am Leben festhaltend, sehe ich mich selbst – und ich halte es nicht aus.
Meine Großmutter starb im September 1991, einen Tag vor ihrem dreiundachtzigsten Geburtstag. Ich träume noch immer von ihr, heute sogar häufiger als unmittelbar nach ihrem Tod. In meinen Träumen ist sie stets sehr viel jünger als zum Zeitpunkt ihres Todes, und sie ist geistig immer völlig auf der Höhe und stark. Sie wird wieder sie selbst, meine Großmutter zu ihrer besten Zeit, und ich blicke sie mit Staunen und Erleichterung an. Mein träumender Geist ist der eines Kindes – sentimental, grandios, er schreibt Geschichten neu, auf dass ihr Ende sich ertragen lässt.
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