Schön scheußlich
Abstrakte konkret zu machen, und andererseits, um lebendig zu schreiben. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Molekularbiologie in ihrer Undurchsichtigkeit etwas Unheimliches hat, deshalb wird sie auch von so vielen Leuten ignoriert. Aber Revolutionen sollten nicht ignoriert werden, und die Molekularbiologie durchlebt derzeit eine solche. Als Wissenschaftsjournalistin habe ich versucht, beides zu verstehen: das ganz Große - die evolutionären Prozesse, die uns das Leben brachten, mit dem wir es heute zu tun haben - und das ganz Kleine - jene Mikrostadt Zelle. Letztere ist der Ort, an dem die Wissenschaft die atemberaubendsten Fortschritte macht, und dies aus dem einfachen Grund, dass in der Molekularbiologie Fortschritte möglich sind. Das entsprechende Instrumentarium ist vorhanden, und im Unterschied zu den meisten Evolutionsproblemen lassen sich hier die Fragen in Einzelteile zerlegen, die sich in sinnvoller, reproduzierbarer Weise analysieren lassen. Wissenschaftler wenden sich im Allgemeinen eher Problemen zu, die sich lösen lassen, als solchen, für die sie ihre Fantasie bemühen müssen. Während wir also einerseits wünschen mögen, dass Wissenschaftler in ihren Ansätzen zum Verständnis der Natur des Lebens weniger reduktionistisch und dafür ganzheitlicher vorgehen, müssen wir andererseits auch anerkennen, dass sie versuchen, die Natur bis zur Kenntlichkeit zu zerlegen. Und nichts stellt sich dem Zerlegen bereitwilliger zur Verfügung als die Bestandteile der Zelle.
Neben speziellen Geschichten über spezielle Moleküle versuche ich in dem Abschnitt über Molekularbiologie, ein Gefühl für die übergreifenden Konzepte zu vermitteln. Da das Genom-Projekt (Human Genome Project) seit Jahren im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht, beherrschen DNS und Gene nicht mehr nur die wissenschaftlichen, sondern auch die allgemeinen Vorstellungen, warum die Abläufe im Leben so sind, wie sie sind, warum wir nun einmal gerade so denken und fühlen. Wenn wir nur den genetischen Code eines menschlichen Wesens herausfinden könnten, so das Argument, dann hätten wir »es«, den Schlüssel, das Rezept für ein menschliches Wesen. Wir verstünden die chemischen Grundlagen dafür, dass der eine sich schüchtern aus jeder Gesellschaft zurückzieht, während ein anderer keinen Au genblick allein verbringen kann, dass der eine so wunderbar Geige spielt, während der andere über die Musikalität eines Laubsaugers verfügt, oder dafür, dass der eine schwul, der Nächste einfach heterosexuell und ein Dritter ein Damenschuh-Fetischist ist. Alternativ dazu rufen die anderen: »Vergesst die Umwelt nicht! Vergesst nicht die erworbene Hälfte der Angeboren-erworben-Gleichung.« Als würde uns die Formulierung einer Dialektik näher an die Lösung des Problems bringen, an das ungeheure Mysterium, wie Leben Gestalt und Farbe erhält. Als würde es etwas bedeuten, wenn man feststellte, dass sechzig Prozent der Intelligenz angeboren und vierzig Prozent umweltbedingt sind (oder umgekehrt, das können Sie sich aussuchen, denn über die Jahre ist beiden Lagern so ziemlich jede mögliche Zahl zugeordnet worden). Was zählt eigentlich als erblich und was als umweltbedingt? Die Leute denken bei »Umwelteinflüssen« in der Regel an Dinge wie, welche Fernsehsendungen sie als leicht zu beeindruckendes Vorschulkind angeschaut haben oder wie sie als Kind von den Eltern behandelt wurden. Doch inzwischen glauben die Wissenschaftler, dass zu Ihrer Umwelt auch Dinge zählen, die Ihnen bereits vor Ihrer Geburt, im Uterus Ihrer Mutter, widerfahren sind. Wenn also eine Schwangere unter einem so hohen Stress zu leiden hat, dass dadurch ihr Hormongleichgewicht gestört wird und sich dieses nachweislich auf ihr Baby auswirkt, so gilt auch dies als umweItbedingt. Oder wenn sich herausstellen sollte, dass Schizophrenie durch pränatale Virusinfektionen verursacht wird - ein Verdacht, dem man derzeit nachgeht - , so würde auch dies als umweltbedingte und nicht als ererbte Krankheitsursache gelten.
Was aber, wenn Ereignisse im Mutterleib die fetalen Gene selbst beeinflussen? Was, wenn Hormonschwankungen oder andere chemische Effekte im Mutterleib an entscheidenden Schnittstellen der Entwicklung die Gen-Expression beeinträchtigen und gewisse Gene an-, andere dafür abschalten? Würde das Ergebnis dieser Veränderungen als Werk der Umwelt oder der Genetik zu gelten haben? Wir begeben uns hier in eine Grauzone der Biologie, wo
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