SCHÖN!
»Baggy«-Modell macht noch den cleversten Jüngling zum Kretin, und die sogenannte »Röhre« ist nichts anderes als ein frauenfeindliches Instrument, das wohlproportionierte Beine wie Würste aussehen lässt. Und mindestens genauso schlimm: Mode erzeugt Gruppenzwang. Was, wie der Soziologe und Philosoph Georg Simmel ( 1858 – 1918 ) treffend feststellte, am »Nachahmungstrieb« des Menschen liegt: »(Die Mode) … führt den Einzelnen auf die Bahn, die Alle gehen, sie gibt ein Allgemeines, das das Verhalten jedes Einzelnen zu einem bloßen Beispiel macht.«
Kurz: Die Mode ist ein Diktator. Sie macht ihre Anhänger zu gefügigen Herdentieren, die alle in die gleiche Richtung stre ben, aktuell zu den Wollmützen und den Taschen mit den extra langen Riemen. Sind dann endlich alle mit den begehrten Objekten ausstaffiert, ändert sie ihre Meinung und befiehlt, dass man alles stehen und liegen lassen und in die entgegengesetzte Richtung laufen soll. Laut Simmel sind die modebewussten Individuen einerseits »unselbständig und anlehnungsbedürftig«, gieren andererseits aber nach »Auszeichnung, Auf merksamkeit, Besonderung«. Zu Simmels Zeiten diente das »Unterschiedsbedürfnis« der Modischen noch dazu, die Zugehörigkeit zu einer (höheren) Klasse oder zu einem bestimmten Geschlecht zu signalisieren – heute dient es allein dazu, die Individualität einer Person zu unterstreichen.
Aber woran soll man diese Individualität erkennen, wenn doch alle mit den gleichen Mützen und Taschen herumlaufen? Wenn Louis-Vuitton-Bags von Horden Halbwüchsiger spazieren getragen werden und jeder Mann, der etwas auf sich hält, mit einer Rolex herumfuchtelt? Individueller Stil hat nichts mit dem gedankenlosen Griff zur Marke zu tun. Stil ist etwas »Persönliches und Schöpferisches« (Simmel), das sich im Laufe der Zeit langsam entwickelt. Etwas, das mit Haltung, Lebenserfahrung und innerem Reichtum (s. Gebrauchsanweisung I) zu tun hat. Stil als Kennzeichen einer unverwechselbaren Persönlichkeit kann man nicht kaufen. Aber: Wo es leichter ist, eine authentische Louis-Vuitton-Bag zu erstehen, als an seiner authentischen Persönlichkeit zu arbeiten, muss das modische »Unterschiedsbedürfnis« ja dem Nachahmungstrieb zum Opfer fallen.
Die Tendenz, individuellen Stil mit einem bestimmten Label gleichzusetzen, können wir ruhigen Gewissens als globalen Massenwahn bezeichnen. Die Anzahl der fashion victims – jener Menschen, die ihre gesamte Hirnleistung auf das Ziel hin orientieren, sich in eine sogenannte Stilikone zu verwandeln – ist weltweit im Anstieg begriffen. Was durch die wie Pilze aus dem Boden schießenden Modemagazine, Modeblogs und Modenschauen noch unterstützt wird. Leider wird niemand zur Stilikone, nur weil er viel Zeit und Geld für Markennamen verschwendet. Er bestätigt mit seinem törichten Verhalten bloß Kants über zweihundert Jahre alte trockene Bemerkung über die Mode: »Diese gehört also unter den Titel der Eitelkeit, weil in der Absicht kein innerer Wert ist.«
Das Zuhause des modernen Mannes
Aber Mode ist nicht nur irgendein Spiel oder ein Wahn, nicht nur Äußerlichkeit, nicht nur irgendein oberflächlicher Schmuck, der Neuheit für Schönheit ausgibt. Mode hat auch eine existenzielle Bedeutung – besonders für den modernen Mann. Wie bitte?
Erinnern wir uns: Mode ist eng verwandt mit der Moderne, einer Epoche, die praktisch keinen Raum mehr für Muße und Faulheit lässt, die ständig nach Neuheit und Abwechslung verlangt. In Simmels Worten: »(J)e nervöser ein Zeitalter ist, desto rascher werden seine Moden wechseln, weil das Bedürfnis nach Unterschiedsreizen, einer der wesentlichen Träger aller Mode, mit der Erschlaffung der Nervenenergien einhergeht.«
Mit der Globalisierung und der Erfindung des Internets hat sich diese Tendenz deutlich verstärkt. Die heutige »Beschleunigungsgesellschaft« (Hartmut Rosa) befindet sich in einem Geschwindigkeitsrausch, der alles fortreißt, was sich ihm nicht anpasst. Was vor einer Sekunde noch neu war, ist in der nächsten schon frühes Mittelalter. Dies hat natürlich auch entscheidende Auswirkungen auf unser Verständnis von uns selbst. Auf die Frage »Wer bin ich?« eine eindeutige Antwort zu finden, wird immer schwieriger. Wenn nichts bleibt, wie es ist, weder die Moden noch die Lebensbedingungen, kann auch unser Ich nicht gleich bleiben.
Unser Ich ist ein ewiges Provisorium. Es baut die Module, aus denen es besteht, immer wieder neu zusammen und
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