SCHÖN!
Marilyns größten Konkurrentinnen war die sechs Jahre jüngere Elizabeth Taylor. Liz hatte sich bereits mit zehn Jahren in Hollywood als Kinderstar verdingt und, dank ihrer enormen Zähigkeit, bis zum Ende ihres Lebens in über fünfzig Kinostreifen mitgewirkt. Anfang der 1960 er-Jahre begegnet sie am Set des Monumentalfilms »Kleopatra« dem Mann ihres Lebens, dem walisischen Schauspieler und Alkoholiker Richard Burton. Die Leidenschaft ist so groß, dass Liz Richard gleich zweimal heiratet und sich ebenso oft von ihm scheiden lässt. Die zahlreichen Exzesse des Liebespaars verdrängen ihre künstlerischen Leistungen zusehends. Liz, wie Marilyn als eine der schönsten Frauen aller Zeiten gehandelt, mutiert mehr und mehr zu einem Nilpferd. In den 1 970 er-Jahren bringt der einst elfengleiche Star bis zu 180 Pfund auf die Waage. Alkohol und Medikamente hinterlassen ihre Spuren. In den 1980 er-Jahren checkt sie zum ersten Mal in eine Entzugsklinik ein.
Verheerende Kindheit, kometenhafter Aufstieg, Weltruhm, Absturz: Ob Liz oder Marilyn – die Biografie der echten Diva gleicht stets einer klassischen Tragödie. Wie der griechische Philosoph Aristoteles ( 384 – 322 v. Chr.) schon vor langer Zeit erkannt hat, geht es bei der Tragödie vor allem um den realitätsnahen Effekt: »Die Tragödie ist … Nachahmung von Handelnden …, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt«, heißt es in Aristoteles’ Poetik .
Nichts ist erregender als der Kontrast zwischen Marilyns lebensfrohem Komödiantentum und ihrem nackten Leichnam. Nichts ist schauerlicher als die Hassliebe zwischen Elizabeth (»Fatty«) Taylor und Richard (»Pockmarks«) Burton, nichts jämmerlicher als ihre verlebten, von Wodka, Streitereien und Schlägereien gezeichneten Gesichter – und nichts faszinierender. Die Diva wagt das, wovor wir uns fürchten. Sie lebt stellvertretend für uns unsere dunkelsten Seiten aus, enthüllt uns die Abgründe, die wir brav in uns verleugnen. Sie führt uns ein Schauspiel vor – die Tragödie ihres Lebens –, das unsere eigene langweilige Existenz wie ein Gewitter erhellt und reinigt. Das uns zeigt, was möglich wäre, wenn auch wir alle Grenzen missachteten, mit den bürgerlichen Konventionen brächen, die unseren Passionen, Süchten und Gelüsten den Riegel vorschieben. Wenn wir einfach durchdrehten …
Das Leben der Diva zieht in Form von Schnappschüssen, Filmaufnahmen und Presseberichten an uns vorüber. Nie ist klar, was wahr und was erfunden ist. Die Diva zeigt alles von sich und bleibt doch wie durch einen Vorhang von uns getrennt. Die Person, die sie ist, und die Rollen, die sie spielt, gehen gleitend ineinander über. Ihr Leben ist ein Film. Ob Liz Taylor Richard Burton anschreit, weil sie zu viel Wodka im Blut hat, ob er sie würgt, weil gerade ein Klatschreporter in der Nähe ist, ob sie ihn demütigt, weil sie George und Martha in Wer hat Angst vor Virginia Woolf? spielen, ist herzlich egal. Es kommt alles aufs Gleiche hinaus.
Was für die Diva wichtig ist, ist nicht das Wirkliche, sondern das Tragische. Eine Tragödie erzählt nicht, was wirklich stattgefunden hat, sondern, wie Aristoteles schreibt, »was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.«
Abb. 11: Elizabeth Taylor, Ende der 50er-Jahre …
Abb. 12: … und 2005
Es geht nicht um Fakten, sondern um verschiedene Möglichkeiten – eine mögliche Wahrheit, eine mögliche Lüge. Was für die Tragödie gilt, gilt auch für die Diven-Existenz: Nichts ist wahr, aber alles ist möglich. Es könnte sein, dass Marilyn wegen ihrer Verbindungen zur Mafia und zum Kennedy-Clan ermordet wurde. Es könnte auch sein, dass Elvis, das Idol aller kreischenden Mädchen, homosexuell war. Alles ist möglich, manches wahrscheinlich – aber nichts selbst verschuldet. Zumindest nicht nach Aristoteles. Die beste Form der Tragödie handelt – so der Autor der Poetik – von einem moralisch ein wandfreien Charakter, der aufgrund eines Irrtums ins Verderben gestürzt wird. Es ist also nicht die Schuld des Helden, sondern sein mangelndes Wissen über eine bestimmte Situation, die den Umschlag vom Glück ins Unglück bewirkt. Im Falle der Diva ist es die Unkenntnis jeglicher Form von Normalität. Sie weiß nicht, was normal, banal, alltäglich ist – sie kennt nur Ausnahmesituationen, vom extremen Glück zum extremen Unglück.
Da jede
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