SCHÖN!
Gegenthese aufgestellt: Die Wurzel des Phänomens Diva ist nicht die Borderline-Erkrankung, sondern der dionysische Rausch.
Der griechische Halbgott Dionysos (lateinisch: »Bacchus«) ist der Held von Nietzsches Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Dionysos, der Gott des Weines, der Ekstase, des Tanzes, des Theaters und der Erlösung, steht für das Dunkle und Entsetzliche ebenso wie für rauschhafte Lebenslust:
»Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: Auch die entfremdete, feindliche und unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.«
Das Dionysische inspiriert den Menschen zum Künstlertum. Es ist rauschhaft, mächtig und vital … wie Elvis’ von zuckenden Tanzschritten und laszivem Hüftkreisen begleiteter fiebriger Gesang, der eine ganze Generation ins Delirium trieb. Für Elvis und jede andere Diva ist die Kunst das »große Stimulans des Lebens« (Nietzsche), der Antrieb zu etwas Großem, (Über-)Mächtigen – und nichts anderes. Eine echte Diva findet weder im Ruhm noch im Geld eine nachhaltige Befriedigung. Sie arbeitet auf die spektakuläre Show, den sensationellen Auftritt, die perfekte Performance hin, weil sie weiß (vermutlich ohne Nietzsche gelesen zu haben): Nur die Kunst kann von den »Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins« befreien – von den Traumata der Kindheit, den Zweifeln über die eigene Existenzberechtigung. Durch ihr Singen, Spielen und Tanzen versetzt die Diva aber nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Publikum in Ekstase. Sie sehnt sich nach einem dionysischen Gemeinschaftserlebnis, das sie aus der Isolation ihrer extremen Lebensform befreit und ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit verschafft. Da sie immer und überall dazugehören will, versucht sie, das künstlerische Rauscherlebnis – das ja mit dem Ende der jeweiligen Darbietung verpufft – auf das ganze Leben auszudehnen. Sie will sich am Leben so berauschen wie an ihrer Kunst. Dafür ist sie bereit, alles aufs Spiel zu setzen: ihr Aussehen, ihre Gesundheit, ihr Talent.
»Rausch, der im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte kommt; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Sieges, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch der Zerstörung … Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle«, heißt es in Nietzsches Schrift Götzen-Dämmerung.
Mit Nietzsche wird klar, warum es für die Diva keine andere Lebensform als die der Tragödie geben kann: Es ist der Wille zum Rausch, der sie in göttliche Sphären aufsteigen – und in höllische Tiefen absinken lässt. Kunst muss Leben sein und Leben Kunst. Musik, Theater, Poesie, Alkohol, Drogen, Sex: alles aus einem, und aus einem alles. Für die rauschfreudige Diva darf es immer ein bisschen mehr sein. Alles andere wäre ihr unerträglich. Was uns tragisch erscheint, ist für sie normal. Der Umschlag von Erfolg in Scheitern, von Schönheit in Hässlichkeit, von Kunst in Komödie ist die einzige Form von »Normalität«, die sie kennt, an der sie festhält bis zuletzt.
Gegen Aristoteles, der die Tragödie mit den »deprimierenden Affekten« Jammer und Schaudern in Verbindung brachte, betont Nietzsche, »dass die Tragödie ein Tonicum ist«, ein Stärkungsmittel. Wir sollen uns am Entsetzlichen erbauen, nicht an ihm verzweifeln. Genau das ist auch die Absicht der Diva: Sie will unterhalten, inspirieren und in ihrem Elend bewundert werden. Zauberhaft oder schauderhaft – the show must go on .
Warum Diven mehr erhaben als schön sind
Die Anziehungskraft von Diven besteht in ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Tragik, ihrer permanenten Berauschtheit vom Leben, der Kunst und den Drogen. Woraus wir schließen können, dass Madonna keine Diva ist. Madonna ist alles andere als eine Grenzgängerin. Sie hat partout nichts Tragisches an sich. Ihre Karriere läuft wie am Schnürchen. Ihre Selbstzweifel und Ängste scheinen (sofern überhaupt vorhanden) nicht sonderlich ausgeprägt. Es spricht einiges dafür, dass sie den Sinn des Lebens nicht im Rausch, sondern im Geldverdienen sieht.
Madonna entspricht dem Ideal der Superfrau. Eine Superfrau ist stark, aber nicht sublim (vom lateinischen Wort für Grenze, »limen«), nicht erhaben. In der Philosophie bezeichnet die Vorstellung des Erhabenen etwas Großes, Gewaltiges, Unvorstellbares,
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