SCHÖN!
Betrachtung eines Rinds versenkte? Wohl kaum. Aber um diese Art brutaler Sublimierung geht es Platon auch gar nicht. Er will einfach zeigen, dass Begierden, die über das Körperliche hinausgehen – philosophisch gesehen – viel mächtiger sind. Davon zeugen die vielen jugendlichen »Fans« des Sokrates, die sich eben nicht von dessen breiter Nase und den Haarresten über seinen Ohren angezogen fühlten, sondern von seinem pädagogischen Eros . Einer der Teilnehmer am Gastmahl, der betrunkene (Im Wein liegt die Wahrheit!) Alkibiades, macht deutlich, wie sehr reife Weisheit unreife Jugend in den Bann zieht:
»Ich bin nun schmerzlicher gebissen, und da, wo der Biss am schmerzlichsten ist – am Herzen oder der Seele oder wie es zu nennen ist –, bin ich geschlagen und gebissen von den Worten der Philosophie, welche wilder als Nattern festhalten, wenn sie eine junge und nicht stumpfe Seele gefasst haben und machen, dass sie wer weiß was tut und sagt!«
Man muss kein altgriechischer Intellektueller sein, um die seelische Liebe der körperlichen vorzuziehen. Warum bei manchen Menschen der Zauber des geschlechtlichen Eros nicht wirkt, kann die unterschiedlichsten Gründe haben. Zum Beispiel eine Behinderung – oder eine Missbrauchserfahrung. Viele Vergewaltigungsopfer verstehen von Sex etwa so viel wie ein Farbenblinder von der Farbe Rot. Der Farbenblinde kann denken : »Dieser Ball ist rot«, aber er kann nicht sinnlich wahrnehmen, was diese Worte beinhalten. Genauso kann es Missbrauchsopfern mit der körperlichen Liebe gehen.
Trotz – oder eher: aufgrund – ihrer hässlichen Erfahrungen mit Sexualität werden einige von ihnen zu großen Erotiker/-in nen. Sie werden Liebende der bildenden Künste und Mu sikliebhaber/-innen. Oder sie leben ihren erotischen Trieb aus, indem sie sich selbst künstlerisch betätigen, singen, malen oder dichten.
Die Fähigkeit, seelisch zu lieben, ist also nicht nur ein philosophisches Ideal. Sie hat vielfach eine ganz konkrete, mitunter überlebensnotwendige Bedeutung. Der platonische Eros erinnert uns daran, worum es in unseren eigenen Liebesbeziehungen gehen sollte: nicht um Gefühlseffekte, sondern um Inspiration. Nicht darum, sich von einer Ansammlung von Körperteilen stimulieren zu lassen, sondern in der geliebten Person – wie in einer Symphonie oder einem Gemälde – eine nie versiegende Inspirationsquelle zu entdecken. Der Mensch, zu dem wir uns hingezogen fühlen, sollte kein austauschbares Liebes objekt sein. Sondern ein einzigartiges, unersetzbares Liebes subjekt mit entsprechend einzigartigen Gefühlen und Gedanken, das wir in all seinen Dimensionen begehren: der äußeren, körperlichen und der inneren, seelisch-geistigen. Was es heißt, mit Leib, Herz und Kopf zu lieben, können wir in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nachlesen:
»Es gab Abende, an denen ich auf meinem Weg durch die Stadt eine so starke Sehnsucht nach Mme Guermantes empfand, dass ich kaum atmen konnte: Es war, als habe ein geschickter Anatom einen Teil meiner Brust entfernt und ihn durch einen gleichen Teil unkörperlichen Schmerzes ersetzt, durch ein gleiches Maß an Sehnsucht und an Liebe.«
Das ist der Preis der erotischen Liebe: Die Sehnsucht nach dem Schönen erfüllt und schmerzt gleichermaßen – körperlich, seelisch, geistig. Das schöne Wesen eines Menschen bedeutet für den, der es entdeckt hat, nicht nur Verlockung und Verführung, sondern auch Unsicherheit und Risiko. Denn man kann die Schönheit des/der Geliebten nie besitzen. Man kann sie immer nur begehren.
Die Rehabilitation des Kitsches in Zeiten fortgeschrittener Leidenschaftslosigkeit
Mit liebendem Blick zu ergründen, worin die äußere und innere Schönheit einer Person besteht, ist natürlich ziemlich zeitaufwendig. Es kann Jahre dauern, bis wir zu verstehen beginnen, was unseren Schatz so einzigartig macht. Bis dahin haben wir uns womöglich längst von ihm getrennt (oder er sich von uns). Warum also erst in die Tiefe gehen? Ist es nicht einfacher, schmerzloser, an der Oberfläche zu bleiben, mögliche Liebesobjekte nach reizvollen Attributen abzuscannen und in den ganz persönlichen Einkaufswagen zu legen? Den auf die eigene Bedürfnisstruktur angeblich optimal zugeschnittenen Menschen kann man problemlos im Netz bestellen. Online-Flirtbörsen bie ten etwas für jeden Geschmack: von »sehr sportlich« bis »äußerst attraktiv«, von »diskret« bis »niveauvoll«. Mit zwei, drei Klicks kann
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