SCHÖN!
Meinung nach sind Urteile, ob rational oder irrational, in jedem Fall schädlich. Denn sie legen uns auf eine bestimmte Position fest, die die vielschichtige, paradoxe Realität (oder vielmehr das, was uns real erscheint) nicht einmal ansatzweise fassen kann – die notwendig mit dieser (vermeintlichen) Realität auf Kriegsfuß steht. Was Ohnmachtsgefühle, Wut, Stress und Streit zur Folge hat. Wenn wir unsere schlechten Gewohnheiten loswerden wollen, müssen wir (nach Pyrrhons Logik) ganz auf den Logos verzichten. Pyrrhon hält nichts von der rationalen Neubewertung irriger Meinungen, auf die Epiktet, Epikur und die moderne Verhaltenstherapie so großen Wert legen. Stattdessen mahnt er zur dauerhaften Urteilsenthaltung. Nur wenn wir uns das Denken, Werten, Kategorisieren für immer abgewöhnen, so Pyrrhons radikale These, können wir »schön« leben: Nur dann haben wir die Kraft und die Muße, uns ganz dem Glücklichsein zu widmen. Ob das stimmt, können wir natürlich nicht durch Denken, sondern nur durch Ausprobieren herausfinden.
Ob Epoché oder »Geldwechseln« – die Lebenskunst-Trainings inspirieren heute wie vor zweitausend Jahren, mit der richtigen geistigen Einstellung zu leben. Die Anleitungen und Rezepte der Philosophen von Pyrrhon bis Montaigne bescheren uns
Autarkeia = Selbstgenügsamkeit . Die Fähigkeit, »aufrecht (zu) stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden« (Marc Aurel); auch die Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – nämlich das, was in der eigenen Macht liegt: ein (moralisch) gutes, vernünftiges, von materiellen Dingen möglichst unabhängiges Leben im Einklang mit sich selbst und der Natur zu führen (vgl. Diogenes in der Tonne). Für Epikur der größte Reichtum überhaupt.
Apatheia = Freiheit von nervenaufreibenden Gefühlen wie Furcht, Gier, Lust und Unlust. (Nicht zu verwechseln mit Apathie!) Bei Pyrrhon ein Hauptmerkmal des Weisen, dem es gelungen ist, »das Menschsein abzulegen«, also sich im Hinblick auf die Wankelmütigkeit aller Erscheinungen eine totale Unempfindlichkeit anzutrainieren. In der stoischen Lebenskunst eine wohltuende Mittellage der Affekte, die sich einstellt, wenn der Geist von irrigen Meinungen geheilt ist, und die mit Emotionen wie Freude (chara) und Achtsamkeit (eulabeia) einhergeht.
Afasia = Felsenfester Entschluss, sich weder auf ein Ja noch auf ein Nein festzulegen. Eng mit der skeptischen Urteilsenthaltung (epoché) verbunden. Die Haltung des Nichts-Sagens, durch die man verhindert, sich über etwas auszulassen, das man sowieso nicht versteht: die Welt, andere Leute oder sich selbst.
Aponia = Freiheit von körperlichen und seelischen Schmerzen, Unlustfreiheit. Für Epikur identisch mit natürlichen Freuden wie Sattsein, Ausgeschlafensein oder Migränefreisein, die den rationalen Seelenteil ansprechen, weil sie nicht nach Mehr verlangen.
Ataraxia = heitere Gelassenheit, Seelenruhe. Für Epikur gleichbedeutend mit aponia, für die Stoiker mit apatheia . Für die Skeptiker das mehr oder weniger zufällige Ergebnis, das aus der Urteilsenthaltung bzw. der Weigerung, bestimmte (dogmatische) Ziele zu verfolgen, resultiert.
Diese fünf A sind nicht nur die Basis für ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zu uns selbst, sondern für gelingende Beziehungen überhaupt. Denn wie können wir ohne autarkeia einen zuverlässigen Ehepartner abgeben? Wie ohne aponia ein Vorbild für unsere Kinder sein? Wie sollen wir ohne ataraxia unsere Mitarbeiter führen? Wie ohne afasia eine Runde Streithähne beschwichtigen? Und wie ohne apatheia einen Freund trösten?
Die fünf A fördern eine der wertvollsten Eigenschaften überhaupt in uns zutage: Geduld. Geduld und Vertrauen darauf, dass das Glück mit stetem Lebenstraining irgendwann von selbst kommt – so wie ja auch das Alter von selbst kommt. Dass wir nach den langen Jahren der Aufgeregtheit, in denen wir versuchten, der Welt auf Biegen und Brechen unsere Absichten aufzuzwingen, eine Zeit erleben werden, in der wir fähig sind, die Dinge geschehen zu lassen … und wie Montaigne (im allerletzten seiner Essais ) nachsichtig zu bemerken: »Gerade ist mir ein Zahn ausgefallen, ohne Nachhilfe, ohne Schmerz: Das natürliche Ende seiner Zeit war erreicht.« Wann die Gelassenheit einsetzt, steht in den Sternen. Sie kann in dreißig Jahren auftreten oder genau jetzt, in diesem Moment. Eins ist jedenfalls klar: Wenn sie kommt, wird es schwer sein, sie zu halten. Denn solange wir leben, gibt es weder ein Happy
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