SCHÖN!
genau während seiner philosophischen Behandlung? Die epikureische Radikalkur, eine Art Mischung aus Verhaltenstherapie und Psychoanalyse avant la lettre, umfasst zwei Etappen. In der ersten Etappe heißt es reden, reden und noch mal reden. Zuerst müssen wir unsere Gedanken, Sehnsüchte, Träume und alles, was wir je getan und nicht getan haben, offenlegen. Je gewissenhafter wir unsere Schwächen, Fehler und Versäumnisse ans Licht bringen, desto besser kann der Philosoph die Ursachen unseres Leids analysieren. Desto treffender fallen seine Diagnosen aus:
• Unzufriedenheit
• Undankbarkeit
• Ungeduld
• Orientierungslosigkeit
• Freudlosigkeit
• Ruhmsucht
• Gier nach Luxus
• Wut
• Neid
• Selbstmitleid
• Anspruchsdenken
In der zweiten Etappe stehen die philosophischen Heilmittel (s. Kap. 7 ) auf dem Programm: Wir werden angewiesen, sie laut zu lesen und auswendig zu lernen, bis sie uns zu den Ohren herauskommen. Denn nur so kann die Medizin nicht nur an der Oberfläche, sondern auch tief in unserer Seele aktiv werden. Nur so kann sie diejenigen irrigen Meinungen heilen, die unserem Bewusstsein entzogen sind. Das Memorieren ist zentral: Wenn wir immer erst nachschauen müssen, welche Freuden nach Epikur »natürlich und notwendig« sind (Essen und Trinken!) und welche »weder natürlich noch notwendig« (unser neues Kleid!), verlieren wir die Motivation und werden die schädlichen Leidenschaften (in diesem Fall: die Gier nach Mehr) nie richtig los. Die Zwiesprache mit dem Logos kann nur funktionieren, wenn wir unseren Text beherrschen – und wenn sich der Text aufs Wesentliche beschränkt. Je prägnanter das philosophische Heilmittel, desto effektiver. Was sich nicht in einfache Worte fassen lässt, ist therapeutisch wirkungslos.
Die Trainings, die Epikur und seine Kollegen der anderen Lebenskunstschulen anbieten, sind nichts für Schwächlinge und Halbentschlossene. Die Askese (s. Kap. 7 ) gibt es nicht als Zehnerkarte – sie ist eine lebenslange Selbstverpflichtung . Wer sein Leben ändern will, muss üben. Und das heißt vor allem: üben, seine Gewohnheiten zu ändern. »Wenn ihr (einer schlechten Angewohnheit) dreißig Tage lang entsagt habt, könnt ihr euch bei den Göttern bedanken, denn eine Gewohnheit wird erst einmal schwächer, bevor sie dann ganz verschwindet«, heißt es in Epiktets Diatriben .
Schlechte Gewohnheiten, das sind für uns Verhaltensweisen wie rauchen, trinken, faul herumliegen, zu fett essen, zu spät essen, zu viel fernsehen und zu wenig schlafen. Aber was ist mit lügen, grübeln, anprangern, idealisieren, schönfärben, schwarzsehen? Dass auch unser Denken auf schlechten Gewohnheiten basieren könnte – dass sogar Denken selbst eine schlechte Angewohnheit sein könnte! –, kommt uns nicht so leicht in den Sinn.
Tatsächlich ist das Glück bzw. Unglück unseres Lebens vielfach auf gewohnheitsmäßige Mechanismen zurückzuführen und nicht (nur) aufs Schicksal. Das war auch Michel de Montaigne (s. Kap. 8 ) klar. In seinen Essais schreibt er:
»In der Tat ist die Gewohnheit eine herrschsüchtige, dabei schleicherische Schulmeisterin. Ganz verstohlen, auf leisen Sohlen dehnt sie Stück für Stück ihren Machtbereich in uns aus. Aber hat sie nach diesen sanften und bescheidenen Anfängen mit Hilfe der Zeit erst einmal in uns Fuß gefasst und sich sesshaft gemacht, lässt sie alsbald die Maske fallen und zeigt uns ihr grimmiges und tyrannisches Gesicht, gegen das auch nur den Blick zu heben wir nicht mehr die Freiheit haben. So sehen wir sie nun auf Schritt und Tritt die Regeln der Natur vergewaltigen: Die Gewohnheit ist die mächtigste Herrin über alle Dinge .«
Aus philosophischer wie aus psychologischer Sicht sind (unbewusste) Denkgewohnheiten die tückischsten Gewohnheiten überhaupt. Sie geben uns ein Gefühl der Sicherheit, lassen uns glauben, das Unbekannte zu kennen, das Unverständliche zu verstehen – und genau darin liegt die Gefahr. Durch unsere Angewohnheit, für jede Situation eine vorgefasste Meinung parat zu haben, alles und jedes in eine Schublade einzuteilen (»zu dick!«, »zu dumm!«, »zu spät!«, »zu früh!«), verlieren wir unsere Unvoreingenommenheit. Wir drängen den Dingen unsere Interpretation auf, anstatt sie so sein zu lassen, wie sie sind.
Montaignes größtes Vorbild, der Skeptiker Pyrrhon (s. Kap. 9 ), kritisierte nicht nur unsere Denkgewohnheiten, sondern auch unsere Angewohnheit zu denken und zu urteilen überhaupt. Seiner
Weitere Kostenlose Bücher