SCHÖN!
menschliche Vernunft eine komplexe Mischung aus Rationalem und Irrationalem. Demgemäß verortet er Impulse, Begierden und Leidenschaften nicht unter oder neben, sondern im rationalen Teil der Seele. Für ihn ist die Vernunft nicht in jedem Fall hochwertig und edel. Sie ist (genau wie die ihr innewohnenden Emotionen) »gut« oder »schlecht«, je nachdem, ob sie »richtige« oder »fal sche« Urteile produziert. So sehr er unser Räsonieren auch für verbesserungswürdig hält, ist Epiktet doch zuversichtlich, dass wir auf den rechten Weg zurückfinden werden – dass wir uns mit demselben Instrument, das auch für unsere krankhaften Verwirrtheitszustände verantwortlich ist, heilen können: dem Logos .
Diesen unerschütterlichen Glauben an die Macht der Gedanken teilt die philosophische Lebenskunst mit der kognitiven Verhaltenstherapie, einer der wichtigsten Errungenschaften der modernen Psychologie: Wie die altgriechischen Philosophen gehen auch die Verhaltenstherapeuten davon aus, dass wir irrationale (unbewusste) Dogmen, die uns das Leben schwer machen, rational prüfen und ändern können, indem wir an ihre Stelle andere Überzeugungen setzen. Wenn wir unsere Überzeugungen ändern, ändern sich unsere Emotionen. Wenn sich unsere Emotionen ändern, ändert sich unser Verhalten. Wenn sich unser Verhalten ändert, ändert sich unser Leben. Alles beginnt mit Epiktet: »Nicht die Dinge beunruhigen den Menschen, sondern seine Meinungen und Urteile über die Dinge.«
Dieser Satz inspirierte den amerikanischen Psychologen Albert Ellis ( 1913 – 2007 ), einen der verhaltenstherapeutischen Pioniere, zum sogenannten ABC -Modell der Emotionen:
• A wie »activating event« (Ereignis): Y lächelt X zu.
• B wie »belief« (Überzeugung): X denkt: »Y belächelt mich wegen meiner großen Nase.«
• C wie »consequences« (emotionale Reaktion): X wird von der Sehnsucht nach einer Nasen-OP erfasst.
Daraus folgt: Wenn es X gelingt, B durch eine realistischere Überzeugung zu ersetzen – zum Beispiel: »Y ist gut gelaunt« –, kann sich X entspannen, und die Nasen-OP ist gegessen. In der Praxis kommt das ABC -Modell bei der Behandlung von Depressionen, Angstzuständen und Suchterkrankungen zum Einsatz. Es dient dazu, kognitive Verzerrungen aufzuspüren, zu analysieren und so zu angemesseneren Interpretationen der Wirklichkeit zu kommen – ganz im Sinne Epiktets, der die Inhalte, die Ellis mit B bezeichnete, mit Münzen verglich. Der Stoiker mahnte seine Schüler, ihre Gedanken auf ihre Güte zu prüfen, so wie ein Geldwechsler seine Münzen auf Gewicht, Prägung und Metallgehalt prüft.
Jeder Mensch wünscht sich ein schönes Leben. Aber nicht jeder bekommt, was er will. Letztlich ist alles eine Frage der Methodik. Unsere Methode besteht meist darin, uns nach Vorgabe eines selbst gebastelten Systems an bestimmten Gegebenheiten (dem Job, der Familie, dem Körper …) abzuarbeiten – in der unbewussten Erwartung, für unsere Anstrengungen reich entlohnt zu werden. Leider tritt statt des schönen Lebens nicht selten ein Systemfehler (eine Krankheit, eine Gehaltskürzung oder irgendeine andere Unannehmlichkeit) ein. Die Folge: Wir reagieren fassungslos, besorgt, beleidigt, mitunter auch panisch. Unsere verzerrte Sicht der Dinge lässt uns glauben, wir wären Opfer unseres Chefs, unserer Eltern oder von Gott weiß wem. Bis wir endlich herausfinden, dass nicht die Umstände, sondern unsere Erwartungen an allem schuld sind, und bis sich wieder etwas Heiterkeit in uns regt, kann es lange dauern.
Die altgriechischen Lebenskunstphilosophen kannten einen kürzeren und wesentlich unkomplizierteren Weg zum Glück: die Dressur des Logos . Für die Mentaltrainer der ersten Stunde waren die rationalen Fähigkeiten des Menschen das, was für uns Muskeln sind. Etwas, das man mit Geduld und Spucke ausbilden kann. Wie Epiktet und sein Vorgänger Zenon war auch Epikur davon überzeugt, dass das schöne Leben bloß eine Sache der Logik sei. Auch er meinte, dass das, was unsere Existenz so erschwert, letztlich nie die äußeren Umstände sind, sondern unsere ungezügelten, unreflektierten Emotionen. Da Gefühle wie Angst, Wut, Sorge oder Gier stets auf bestimmten unhinterfragten Meinungen und Wertungen basieren, also eine kognitive Dimension haben, lassen sie sich durch die entsprechende Hirngymnastik eliminieren.
Epikurs Trainingsplan verlangt keinen besonders hohen Intelligenzquotienten, aber eine ganze Menge Ausdauer. Was passiert
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