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SCHÖN!

SCHÖN!

Titel: SCHÖN! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebekka Reinhard
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Lebens – Gebrauchsanweisung III
    »Schön« nennen wir ein gut gebautes junges Mädchen, ein blank poliertes Auto, einen lauen Sommerabend oder einen gelungenen Urlaub. »Schön« ist ein ziemlich merkwürdiges Wort. Wenn wir versuchen, es mit Zahlen (» 90 – 60 – 90 «!) zu belegen, wird es abstrakt. Wenn wir es mit »positiv« oder »erfreulich« gleichsetzen, verkommt es zur Floskel: »Schön, dass wir uns treffen, Wendriner. Wirklich schön praktisch hier. Und das schöne Wetter, und die schöne Aussicht, und dieser schöne Landwein!«, wie Kurt Tucholsky einmal so »schön« schrieb.
    Was auf einzelne Gegenstände zutrifft, gilt auch für das Lebensganze: Schönheit geht anders als die Außentemperatur oder die Eckzähne von Zwergschimpansen über das objektiv Messbare hinaus. Wie wäre es sonst zu erklären, dass ein derart komplexes Gebilde wie das Leben, das so viele verschiedene Aspekte umfasst – von A wie Auftrieb zu V wie Verzweiflung, von E wie Erfolg zu P wie Pleite –, mit Recht als »schön« bezeichnet werden kann?
    Aus philosophischer Sicht ist ein schönes Leben eine im Großen und Ganzen glückliche, gelungene, sinnvolle Existenz, die nur bedingt von äußeren Faktoren wie körperliche Schönheit, Gesundheit oder Reichtum abhängt. Was unser Leben »schön« macht, ist viel mehr als das Ansehnliche, Wohltuende, Prickelnde. Glück ist keine Frage der Umstände, sondern der geistigen Einstellung. So erklärt sich, warum Leute, die ein Nierenleiden plagt, mitunter glücklicher sind als Leute, die auf Ibiza leben. Sonne und Palmen sind nicht per se erfreulich, genauso, wie eine Dialyse nicht per se entsetzlich ist. Eine Blutreinigung kann ganz erträglich sein, erträglicher sogar als ein Tag am Meer – je nachdem, was sich in unseren Gehirnwindungen tut. Je nachdem, in welche Richtung wir unsere Gedanken lenken, ob wir unlösbare Probleme wälzen oder eben nicht. Es ist stets der Logos, der über unser Wohl und Wehe entscheidet.
    Wirklich? Immerhin haben renommierte Psychologen wie Daniel Kahnemann (* 1934 ) oder Dan Ariely (* 1968 ) gezeigt, dass unser Gehirn nur teilweise zu rationalen Entscheidungen fähig ist. Sie gehen davon aus, dass wir zwei Denksysteme besitzen: ein bewusstes, reflektierendes, logisches und ein intuitives, emotionales, unbewusstes. Die erste Form des Denkens ist langsam und anstrengend, die zweite schnell und unaufwendig. Im Unterschied zum ersten Denkmodus läuft der zweite automatisch ab. Das heißt für Kahnemann, Ariely und Co.: Wenn wir meinen, eine bewusste, rationale Wahl getroffen zu haben, gehorchen wir in Wahrheit oft bloß unseren Impulsen, Intuitionen und vorgefertigten Meinungen. Anstatt uns im echten Sinne »geistig« zu betätigen, folgen wir irgendwelchen unbewussten Vorstellungen über die Wirklichkeit. Wir sind also viel weniger vernünftig, als wir glauben. Wir sehen das, was wir sehen wollen. Wir versuchen, die Welt so zu interpretieren, dass sie unseren Erwartungen entspricht.
    Ist dies nicht möglich, versuchen wir, das, was uns stört, zu korrigieren. Auf die unerfüllte Erwartung folgt die Korrektur und auf die Korrektur wieder die Erwartung. Was für den Alltag gilt, gilt auch für das Leben insgesamt. Selten stimmen die Erwartungen mit der Realität überein. Nie ist uns unsere Nase, unser Strandhaus, unser Blutbild gut genug. Nie sind wir so glücklich, wie wir es sein könnten. Weil wir zwischen Erwartung und Korrektur hin- und hergerissen sind. Weil wir uns zum Spielball unserer inneren Automatismen machen lassen. Weil wir – unbewusst und intuitiv – Schönheit und Glück zum Pflichtprogramm erklären. Kein Wunder, dass wir gestresst, ängstlich oder voller Selbstzweifel sind.
    Lange bevor die moderne Psychologie Begriffe wie »automatische Gedanken« und »kognitive Verzerrungen« prägte, entwarfen die Epikureer, Stoiker und Skeptiker (s. Kap. 7 und 9 ) ihre eigene Theorie über die Funktionsweise der Vernunft. Obwohl die Lebenskunstphilosophen grenzenloses Vertrauen in die Heilkraft des Logos setzten, hielten sie die Ratio des Menschen für ziemlich fehlerhaft. Tatsächlich waren sie – circa zweitausend Jahre vor Sigmund Freud – die ersten westlichen Philosophen, die die Bedeutung unbewusster Beweggründe in der menschlichen Psyche erkannten. Sie betrachteten den Menschen als eine Art Schlafwandler, der weder weiß, was er tut, noch, warum er es tut. Auch der Stoiker Epiktet war dieser Meinung. Laut Epiktet enthält die

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