Schönbuchrauschen
fuhr auf der A 81 nach Süden.
»Im Leben nie«, sagte er so laut, als säße ein Gesprächspartner neben ihm. Lachend schüttelte er den Kopf und schnalzte leise mit der Zunge, als hätte ihm jemand eben eine unglaubliche Geschichte erzählt. Dann schaltete er das Radio ein und sang mit, wenn er irgendwie konnte. Er kam ganz gut voran. Nur die Baustelle auf der Neckartalbrücke verlangsamte den Verkehrsfluss, dann aber ging es flott weiter.
Als er bei Engen in den Hegau hinunterfuhr, war klare Sicht. In zartem Orange leuchteten die Spitzen der Alpen. Die Schweiz, das Land der schönen Berge und Banken, wo er sich eine schicke Krawatte und ein Nummernkonto aneignen würde, grüßte freundlich herüber.
Zweiter Teil
1
OW war auf Probefahrt. Er hatte sich von seinem Freund Siggi Kupfer dessen neues Fahrrad geliehen, weil er daran dachte, sich ebenfalls eines zu kaufen, und zwar eines, das er fahren könnte, bis er achtzig würde. Aber ein E-Bike sollte es nicht sein. Es ging ihm nicht darum, per Rad von A nach B zu kommen – er hatte schließlich ein Auto –, sondern um die Anschaffung eines Trainingsgeräts, das ihn nicht überfordern würde.
»So eins wie meins: mit ultratiefem Einstieg, Siebengangschaltung und vor allem mit Rücktritt, halt ein Citybike«, hatte Kupfer gesagt.
»Was soll ich in der City?«
»Du musst damit nicht in die City. Das hat dicke Reifen. Mit dem kannst du auch bequem durch den Wald fahren.«
Genau das tat OW.
Es war Anfang November, aber trocken und mild. Die Laubfärbung war immer noch prächtig, und nach ein paar grauen Hochnebeltagen war heute schon am Morgen die Sonne durchgebrochen, so dass es OW nicht zu Hause hielt.
»Heute probier ich endlich Siggis Rad aus.«
»Aber ohne mich«, sagte Emma. »Ich mag mich nicht schinden.«
»Ich schinde mich nicht. Ich fahre gemächlich durch den Wald«, sagte OW bestimmt.
»Durch den Wald?« Emma war skeptisch. »Bis du im Schönbuch oben bist, hast du keine trockene Faser mehr am Leib.«
»Ich kann auch schieben.«
»Und wo willst du dann hinfahren?«
»Durchs Goldersbachtal nach Bebenhausen, über Lustnau nach Tübingen und dann mit der Ammertalbahn zurück.«
Emma runzelte die Stirn.
»Na hoffentlich bist du wieder da, bevor es Nacht wird.«
»Keine Frage. So lange brauche ich nicht. Vom Steighäusle aus ist es nur eben oder geht sogar bergab.«
»Pass auf, dass dich der Sattel nicht bis zum Nabel durchsägt.«
»Jetzt hör doch auf zu unken.«
Er machte sich ein Vesperbrot, kaufte auf dem Weg durch die Stadt zwei Dosen Bier und fuhr die Hildrizhauser Straße hinaus. Er saß aufrechter, als er gedacht hatte, und fand den Sattel sehr bequem. Auf den ersten fünfzig Metern der Steige, ungefähr bis zum Ortsschild, testete er den kleinsten Gang, dachte dann aber doch an die trockenen Fasern, die er bis Tübingen am Leib haben wollte, und stieg ab. Lieber zwei Kilometer schieben als nassgeschwitzt sein.
Nach einer halben Stunde war er oben am Herrenberger Waldfriedhof, und nun begann der genussvolle Teil der Tour. Auf etwas mehr als fünf Kilometern ging es hundert Höhenmeter ins Goldersbachtal hinab. Rechts und links goldener Buchenwald. Es war eine Freude. Es störte ihn nur etwas, dass er auf dem Schottersträßchen immer wieder einhändig fahren musste, weil ihm die rechte Hand einschlief. Trotzdem pfiff und sang er vor sich hin, machte seinen Anorak auf, ließ ihn im Fahrtwind flattern und fühlte sich mindestens fünfzehn Jahre jünger als während der halbe Stunde, die er das Rad bergauf geschoben hatte. Als der Schotterweg kurz vor der Neuen Brücke ebener wurde und er etwas mehr in die Pedale treten musste, wenn er nicht langsamer werden wollte, spürte er, dass es jetzt doch bald Zeit wäre, einen Schluck zu trinken. Das wollte er am nächsten Grillplatz tun. Und keine fünf Minuten später sah er zwischen den Bäumen die Grillstelle mit dem überdachten Sitzplatz. Die kam gerade recht.
Auf seiner Abfahrt war er keiner Menschenseele begegnet, und so stutzte er, als er auf einer der überdachten Bänke einen Mann sitzen sah – an einem Novemberspätvormittag mitten in der Woche. Er selbst testete ja ein Fahrrad. Aber was wollte der da? Und wie war er jetzt schon hierhergekommen? Ein Fahrrad war nirgends zu sehen.
OW stieg ab, nahm seine Vespertüte und eine Bierdose aus dem Einkaufskorb und ging auf die Schutzhütte zu. Die schrägen Sonnenstrahlen, in denen die Mücken tanzten, tauchten die Bänke in ein
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