Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schoene Bescherung

Schoene Bescherung

Titel: Schoene Bescherung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo Swobodnik
Vom Netzwerk:
zischte die Blinde und verzichtete als Einzige auf die Praline.
    Auf das glänzende Gesicht einer vornehm aussehenden, ebenfalls schon älteren Frau legte sich ein Lächeln. »Angenehm, ich heiße Walburga von Ribbenhold. Das ist meine Enkelin Marie-Louise.«
    Marie-Louise reagierte nicht. Sie starrte in ein Mädchenmagazin, knechtete mit ihrem Unterkiefer einen Kaugummi und dachte nicht im Traum daran aufzublicken. Wie auch. Sie hörte ja nichts. Nein, sie war nicht taub, sondern hatte einen Kopfhörer auf den Ohren, aus dem chartsverdächtige Popmusik dröhnte, die auch außerhalb des Kopfhörers mit anzuhören war.
    »Ach, die Jugend«, sagte Eduard von Alten und lächelte.
    Frau von Ribbenhold nickte zustimmend, dass ihre goldenen Ohrringe klimperten. Sie hatte volles, dunkelbraunes, vermutlich gefärbtes Haar – gelockt und toupiert – , war um die siebzig und eine auffallend gepflegte Erscheinung. Was man von Marie-Louise nicht behaupten konnte. Sie war ein Teenager, fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre alt und offenbar in ihrer spätpubertären Phase. Modisch das krasse Gegenteil ihrer Großmutter. Sie trug ausgewaschene Jeans, einen viel zu großen Norwegerpullover und eine Bomberjacke mit Aufnähern und verfilztem Pelzkragenimitat.
    Was Großmutter und Enkelin über das verwandtschaftliche Verhältnis hinaus miteinander zu schaffen hatten, war auf den ersten Blick unklar. Dass Marie-Louise nicht unbedingt freiwillig mit ihrer Großmutter und dieser rollenden Altenbegegnungsstätte nach Karlsbad fuhr, war ihr jedoch deutlich anzusehen. Dass da irgendeine Art von Zwang, Druck oder aber auch Bestechung mit im Spiel war, schien klar.
    »Wie weit ist es denn noch, Herr Plotek?«, rief Herr Wilhelm mit schokoladeverschmiertem Mund nach vorne.
    Mir doch egal, dachte Plotek und schaute durch die große Windschutzscheibe den auf ihn zurasenden Schneeflocken zu. Während er für die suizidalen Schneeflocken, die sich an der Scheibe zu Tode prallten, größtes Verständnis aufbrachte, gingen ihm die Busreisenden im Kopf herum wie beim Volkswandertag.
    Das ist keine Luxusreise nach Karlsbad, dachte Plotek schließlich, das glich eher einer Pilgerfahrt nach Lourdes – vom Personal her jetzt. Ein rollendes Lazarett. Mit einem Touch sozialer Begegnungsstätte. Alle Reisenden waren entweder ein wenig krank, deformiert oder sonstwie nicht ganz auf der Höhe. Wenn man ehrlich ist, dachte Plotek dann, den Blick weiter im dichter werdenden Schneeflockenstrudel versunken, so ist der Mensch eben. Das Vollkommene, das Perfekte gibt es nicht – hat es nie gegeben. Jeder hat so sein Handikap – und das ist auch gut so. Die Gentechniker, die Humangenetiker wollen den perfekten Menschen. Dass ich nicht lache, dachte Plotek und lachte nicht, sondern dachte, hierfür ist denen kein Mittel zu schade. Von der Erbgutmanipulation über die Reagenzglasbefruchtung und Bio-Ethik-Konvention, über die Präimplantations-Diagnostik, Eugenetik, Selektion und Keimbandtherapie bis hin zur Maus mit dem Ohr auf dem Rücken. Der perfekte Mensch, dass ich nicht lache, dachte Plotek und lachte noch immer nicht. Ist der Mensch erst mal perfekt, ist er alles andere, bloß kein Mensch mehr. Und ist der Mensch ein Mensch, dann ist er alles andere als perfekt. Dann ist er schwerhörig, blind, taub und stottert. Dann ist er darmoperiert, transsexuell, depressiv, ein bisschen verrückt, hat eine Hasenscharte, einen dicken Bauch, sitzt im Rollstuhl, ist autistisch, extro – oder introvertiert oder ganz einfach trivial banal – Mensch eben. Wie hier im Bus jetzt, dachte Plotek. Einen besseren Querschnitt menschlichen Leids auf so engem Raum gibt es nicht. Bei diesen Gedanken begann die ganze Windschutzscheibe im Schneegestöber zu verschwimmen und schwemmte Plotek und seine Gedanken über den Menschen im Allgemeinen und sich selbst im Speziellen weit weg in Regionen und Sphären, denen mit klarem Bewusstsein nicht mehr beizukommen war.
    Er schlief, zuerst mit offenen Augen. Dann mit geschlossenen. Und träumte.

4
    »Alles aussteigen!«
    Schon da, dachte Plotek, schlug die Augen auf und sah sich getäuscht. Sie standen vor einer Raststätte. Der wievielte Halt das jetzt war, wusste er gar nicht mehr. Fast jede Raststätte hatten sie anfahren müssen. Es gab Busreisende, die konnten offenbar keine fünfzig Kilometer das Wasser halten. Zuletzt war Ferdinand Schnabel so genervt, dass sein Grinsen ganz aus dem Rückspiegel verschwand. Der Einzige, der bemüht

Weitere Kostenlose Bücher