Schoene Bescherung
gemeiner?«
Wieder Schulterzucken.
»Wenn man einen Stummfilm aussucht!«
Witzbold, dachte Plotek. Er konnte Menschen nicht leiden, die ständig Witze erzählten. Genauso wie er Witze nicht ausstehen konnte. Er konnte erstens weder darüber lachen, noch zweitens sich selbst welche merken. Für Plotek gab es nichts Freudloseres als Witze. Für Herrn Wilhelm war das offensichtlich anders. Vielleicht wollte er mit dem Witz aber auch nur die graue Wolke, die sich auf die Stimmung der Reisegruppe zu legen drohte, ein wenig wegpusten – was ihm zu gelingen schien. Alle wiederholten die Pointe und lachten.
Auch die Blinde lächelte und sagte dann: »Fragt der Psychiater seinen Patienten nach der erfolgreichen Behandlung: ›Ab jetzt sind Sie auch ganz sicher, dass Sie keine Maus mehr sind?‹ Der Patient sagt: ›Ja, ganz sicher‹, und geht. Ein paar Sekunden später ist er wieder da. ›Vor der Tür ist eine Katze!‹ Versucht der Psychiater ihn zu beruhigen: ›Aber Sie wissen doch, dass Sie keine Maus sind.‹ ›Klar‹, sagt der Patient, ›aber weiß das auch die Katze?‹«
Schlagartig war es ruhig. Keiner lachte mehr, Grinsen war auch nicht. Nur Herr Skolny prustete los. Die anderen schüttelten verständnislos den Kopf. Dann rief Frau von Ribbenhold so laut, dass es auch jeder hörte: »Mir dürfen Sie gerne helfen, Herr von Alten!«
Sie ließ sich, unter der Achsel eingehakt, von Herrn von Alten zur Toilette begleiten. Sie stolzierte an seinem Arm, als ob sie noch nie in einem Rollstuhl gesessen, geschweige denn jahrelang auf ihn angewiesen gewesen wäre. Von Rheuma keine Spur. Quasi Wunderheilung. Hat die Reise doch was von Lourdes, dachte Plotek verwundert. Alle anderen wunderten sich auch. Sogar Marie-Louise staunte, dass ihr beinahe der Kaugummi aus dem offenen Mund gefallen wäre. Plotek dachte: War jetzt Herr von Alten für Frau von Ribbenhold ein Jungbrunnen oder Frau von Ribbenhold der fleischgewordene und aufrecht gehende Wille – keine Ahnung. Frau von Ribbenhold war auf jeden Fall kurzzeitig der Star der Reisegruppe. So wie die Blinde bei fast allen anderen Fahrgästen unten durch war.
»Wenn Sie sich nicht helfen lassen, werden Sie schon sehen, wo Sie das hinführt«, sagte Ferdinand Schnabel.
»Hauptsache nicht ins Bett von diesem schmierigen Macho – alles andere ist halb so schlimm.«
»Wie wollen Sie denn wissen, dass der Macho schmierig ist?«, gab Schnabel jetzt spitzfindig zurück.
»Dazu braucht man keine Augen.«
»Meine liebe Frau, ich bitte Sie.«
»Erstens bin ich nicht Ihre liebe Frau. Und zweitens, worum wollen Sie mich bitten? Dass ich mich an der Hand führen lasse wie ein Schwerverbrecher? Oder ein Deutscher Schäferhund?«
»Darum nicht zu glauben, dass hier alle gegen Sie sind.«
»Wie kommen Sie denn darauf? Das glaube ich überhaupt nicht. Alle nicht, der Reisebegleiter zum Beispiel ist da anders.«
Sie schaute zu Plotek, der nicht weit weg von Schnabel noch immer neben dem rauchenden Skolny stand. Sie schaute, als ob sie ihn sehen könnte, ging unsicher zwei Schritte auf Plotek zu und hakte sich bei ihm ein.
»Gehen wir«, sagte sie.
Als Plotek mit der Blinden am Arm losging, roch er wieder ihr Parfüm. Wie zwischen zwei Elektroden geraten, funkte es jetzt in Ploteks Nervensystem, als ob ihm alle Sicherungen auf einmal durchbrennen wollten. Am liebsten wäre er jetzt kopfüber in die wabernde Duftwolke hineingetaucht. Als hätte die Blinde Ploteks olfaktorischen Höhenflug bemerkt, sagte sie: »Schön, dass sie mich riechen können.«
Folge: augenblicklicher Absturz von Plotek. Der Grund: Plotek war es immer schon unangenehm, wenn Menschen etwas verbalisierten, bevor er es auch nur denken konnte. Noch unangenehmer war es ihm, wenn diese Menschen Frauen waren. Am unangenehmsten, wenn die Frauen auch noch ganz akzeptabel aussahen. Wie jetzt.
»Da haben wir schon etwas gemeinsam«, setzte die Blinde nach.
Zuerst verstand Plotek nicht. Akustisch, jetzt. Wiederholte die Blinde ihre Worte eben. Woraufhin Plotek sie zwar akustisch verstand, aber immer noch nicht kapierte. Jetzt muss man wissen, dass Plotek nicht der Schnellste ist im Erkennen von Zusammenhängen. Plotek braucht immer ein bisschen länger, um hinter die Worte zu blicken und deren Bedeutung zu verstehen. Quasi, tiefer blicken, genauer sehen oder analytisch sehen, war noch nie seine Stärke. Oder anders gesagt: Von der Linguistik des Hörbaren zur Didaktik der Zusammenhänge war es bei Plotek nicht
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