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Schöne Neue Welt

Schöne Neue Welt

Titel: Schöne Neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
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Lenina, die Augen vor
    Grauen und Staunen weit aufgerissen.
    »Er ist alt geworden, weiter nichts«, antwortete Sigmund möglichst gleichmütig. Auch er war erschrocken, bemühte sich aber, sich nichts anmerken zu lassen.
    »Alt?« wiederholte sie. »Unser Direktor ist doch auch alt, viele Menschen sind alt, aber keiner sieht so aus.«
    »Weil wir ihnen nicht gestatten, so auszusehen. Wir schützen sie vor Krankheiten. Wir halten ihre innere Sekretion künstlich in jugendlichem Gleichgewicht. Wir lassen ihren Magnesium-Kalzium-Spiegel nicht unter den eines Dreißigjährigen sinken.
    Wir verabreichen ihnen Frischzellen. Wir halten ihren
    Stoffwechsel in Gang. Deshalb sehen sie nicht so aus wie der dort. Hinzu kommt, daß die meisten von ihnen sterben, lange bevor sie das Alter dieses Geschöpfs erreicht haben. Kraftvolle Jugend bis zum sechzigsten Jahr und dann - schwupps! das Ende.«
    Lenina hörte nicht zu. Sie beobachtete den Greis. Langsam, unendlich langsam kroch er herab. Seine Füße berührten den Erdboden. Er wandte sich um. Die Augen in den tief
    eingesunkenen Höhlen strahlten noch ungewöhnlich hell.
    Ausdruckslos und ohne Staunen blickte er sie eine lange
    Sekunde an, als wäre sie gar nicht da. Dann humpelte er mit krummem Rücken an ihnen vorbei und verschwand.
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    »Das ist ja entsetzlich«, flüsterte sie. »Das ist grauenhaft.
    Wären wir nur nicht hergekommen!« Sie suchte nach dem Soma in ihrer Tasche und entdeckte, daß sie es, ganz gegen ihre Art, aus Versehen unten in der Schutzhütte liegengelassen hatte.
    Auch Sigmund hatte keines bei sich. Hilflos mußte sie den Schrecknissen von Malpais ins Auge sehen. Sie häuften sich rasch. Beim Anblick zweier junger Frauen, die ihren Säuglingen die Brust gaben, errötete sie und wandte das Gesicht ab. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas so Unanständiges erblickt. Und das allerschlimmste war, daß Sigmund, statt darüber taktvoll hinwegzugehen, offen über diese abstoßende Szene zu sprechen begann. Nun, da die Wirkung des Somas verflogen war, schämte er sich seiner Schwäche am Morgen im Hotel und machte besondere Anstrengungen, sich als
    freigeistige Kraftnatur aufzuspielen.
    »Ein wundervoll inniges Verhältnis«, bemerkte er bewußt anstößig. »Welches tiefe Gefühl es erzeugen muß! Oft scheint es mir, als hätte ich etwas versäumt, weil ich keine Mutter hatte.
    Und vielleicht hast auch du etwas versäumt, Lenina, weil du keine Mutter bist. Stell dir das vor, wie du hier sitzt, dein eigenes Baby im Arm...«
    »Sigmund! Wie kannst du nur!« Ein altes Weib mit
    entzündeten Augen und kranker Haut, das vorüberkam, lenkte sie von ihrer Entrüstung ab.
    »Gehen wir doch!« bat sie. »Mir gefällt das nicht.«
    In diesem Augenblick kam der Führer zurück, winkte ihnen, ihm zu folgen, und führte sie einen schmalen Weg zwischen den Häusern entlang. Sie bogen um die Ecke.
    Auf einem Abfallhaufen lag ein toter Hund; eine Frau mit einem Kröpf suchte einem kleinen Mädchen das Haar nach
    Läusen ab. Der Führer blieb am Fuß einer Leiter stehen und wies energisch mit der Hand nach oben und dann nach vorn. Sie folgten seinem stummen Befehl, stiegen die Leiter hinauf und
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    betraten durch die Tür an ihrem Ende einen langen, schmalen Raum, der fast dunkel war und nach Rauch, Bratfett und vielgetragenen, selten gewaschenen Kleidern roch. An seinem anderen Ende war eine zweite Tür, durch die ein Sonnenstrahl und der nahe Lärm sehr lauter Trommeln drangen.
    Sie traten durch diese Tür ins Freie und befanden sich auf einer breiten Terrasse. Unter ihnen lag, von den hohen Häusern eingeschlossen, der Dorfplatz, auf dem sich die Indianer drängten. Grelle Decken, Federn in schwarzem Haar, glitzernde Türkise und dunkle Haut, die vor Hitze glänzte. Lenina hielt das Taschentuch wieder vor die Nase.
    In einem freien Raum inmitten des Platzes bemerkten sie zwei kreisrunde Platten aus Mauerwerk und gestampftem Lehm,
    offenbar die Dächer unterirdischer Kammern, denn jede Platte hatte in der Mitte eine Luke, durch die eine Leiter aus der dunklen Tiefe herausragte. Unterirdisches Flötenspiel drang herauf und verlor sich fast völlig im gleichbleibenden,
    erbarmungslosen Klang der hartnäckigen Trommeln.
    Die Trommeln gefielen Lenina. Mit geschlossenen Augen
    überließ sie sich ihrem immer wiederkehrenden gedämpften Donnerrollen, ließ ihr Bewußtsein mehr und mehr davon
    durchdringen, bis von der ganzen Welt nichts übrigblieb als der

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