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Schöne Neue Welt

Schöne Neue Welt

Titel: Schöne Neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
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erstaunt. »Wir behaupten
    doch stets, es gehe nichts über die Wissenschaft? Das ist eine Schlafschulweisheit.«
    »Dreimal wöchentlich vom dreizehnten bis siebzehnten
    Lebensjahr«, warf Sigmund ein.
    »Und die viele Propaganda für Wissenschaft an unserer
    Hochschule -«
    »Ja, aber für was für eine Wissenschaft?« fragte der WAR
    höhnisch. »Ihnen fehlt die wissenschaftliche Vorbildung, daher können Sie es nicht beurteilen. Ich war zu meiner Zeit ein recht tüchtiger Physiker. Zu tüchtig sogar, jedenfalls tüchtig genug, um in unserer ganzen Wissenschaft nicht mehr als ein Kochbuch zu erblicken, dessen strenge Lehre niemand anzweifeln und dessen Rezepten nur mit Erlaubnis des Küchenchefs etwas
    hinzugefügt werden darf. Jetzt bin ich der Küchenchef. Einst war ich ein naseweiser Küchenjunge und begann, ein wenig nach meinem eigenen Kopf zu kochen, auf eine neue, verbotene Weise - trieb ein wenig echte Wissenschaft, heißt das.«
    Er verstummte.
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    »Und was geschah Ihnen?« fragte Helmholtz Holmes-Watson.
    Der Aufsichtsrat seufzte. »Ungefähr dasselbe, was euch jungen Leuten geschehen wird. Ich wäre fast auf eine Insel verschickt worden.«
    Diese Worte bewirkten, daß sich Sigmund höchst aufgeregt und peinlich benahm. »Mich auf eine Insel verschicken?« Er sprang auf, lief durchs Zimmer und blieb gestikulierend vor dem WAR stehen. »Mich können Sie doch nicht verschicken? Ich habe nichts verbrochen. Die anderen sind es gewesen, ich schwöre es, die anderen!« Anklagend wies er auf Helmholtz und den Wilden. »Oh, bitte, schicken Sie mich nicht nach Island! Ich verspreche, daß ich immer nur tun werde, was ich tun soll.
    Geben Sie mir noch einmal eine Chance! Bitte, noch ein
    einziges Mal!« Er brach in Tränen aus. »Die anderen sind schuld, sage ich Ihnen«, schluchzte er. »Nicht nach Island! Bitte, Eure Fordschaft, bitte -« In einem Anfall von Selbsterniedrigung warf er sich vor Mustafa Mannesmann auf die Knie. Der suchte ihn zum Aufstehen zu bewegen, aber Sigmund verharrte in seiner Kriecherei, sein Wortschwall strömte unerschöpflich.
    Zuletzt mußte der Aufsichtsrat nach seinem Vierten Sekretär läuten.
    »Holen Sie drei Leute«, befahl er, »und schaffen Sie Herrn Marx in ein Schlafzimmer. Nebeln Sie ihn tüchtig mit Soma ein, stecken Sie ihn ins Bett und lassen Sie ihn allein!« Der Vierte Sekretär ging hinaus und kam mit drei grünuniformierten
    identischen Lakaien zurück. Der schreiende, schluchzende Sigmund wurde hinausgetragen.
    »Man könnte glauben, der Kopf werde ihm abgerissen«, sagte der Aufsichtsrat, als sich die Tür schloß. »Wenn er nur einen Funken Verstand hätte, sähe er ein, daß seine Strafe eigentlich eine Belohnung ist. Er kommt auf eine Insel, das heißt, an einen Ort, wo er die interessantesten Leute der Welt antreffen wird, lauter Menschen, denen aus irgendeinem Grund das Bewußtsein ihrer Individualität so sehr zu Kopf gestiegen ist, daß sie sich
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    nicht mehr ins Gemeinschaftsleben eingliedern ließen. Lauter mit der orthodoxen Lebensordnung Unzufriedene, die
    unabhängige, eigene Ideen haben. Kurz jeder, der jemand ist.
    Ich beneide Sie fast, Herr Holmes-Watson.«
    Helmholtz lachte. »Warum sind Sie denn nicht auf einer
    Insel?«
    »Weil ich am Ende doch dies hier vorzog«, antwortete der WAR. »Ich hatte die Wahl: entweder Verbannung auf eine Insel, wo ich meine reine Wissenschaft hätte weiter betreiben können, oder Berufung ins Weltaufsichtsamt, mit der Aussicht, in angemessener Zeit zum Aufsichtsrat befördert zu werden. Ich entschied mich für das zweite und ließ die Wissenschaft sausen.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Manchmal ist es mir um die Wissenschaft leid.
    Glück ist eine strenge Herrin, namentlich das Glück der anderen. Und besonders, wenn man nicht darauf genormt ist, es kritiklos hinzunehmen, eine viel strengere Herrin als selbst die Wahrheit.« Er seufzte, schwieg eine Weile und fuhr dann in lebhafterem Ton fort: »Pflicht ist nun einmal Pflicht. Man kann sich nicht von seinen Neigungen leiten lassen. Ich suche die Wahrheit, ich liebe die Wissenschaft.
    Aber Wahrheit ist eine ständige Bedrohung, Wissenschaft eine öffentliche Gefahr, ebenso gefährlich, wie sie einst wohltätig war. Sie hat uns das stabilste Gleichgewicht der Weltgeschichte gegeben. Mit uns verglichen, war China
    hoffnungslos unbeständig; sogar die primitiven Matriarchate waren nicht unerschütterlicher, als wir es, wie gesagt, dank der Wissenschaft

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