Schöne Neue Welt
einer Wolke hervor. Unsere Seele fühlt und sieht den Urquell alles Lichts und wendet sich ihm zu, aus natürlichem Trieb und unvermeidlich, denn nun, da alles, was der
Sinnenwelt Leben und Zauber verlieh, uns entgleitet, nun, da unser Dasein in der Welt der Erscheinungen nicht länger durch innere oder äußere Eindrücke gestützt ist, fühlen wir das Bedürfnis, uns an etwas Bleibendes zu lehnen, das uns niemals betrügt - an eine Wirklichkeit, eine unbedingte, unvergängliche Wahrheit. Ja, unvermeidlich wenden wir uns zu Gott, denn das religiöse Gefühl ist seinem ganzen Wesen nach so rein, so köstlich für die Seele, die es erlebt, daß es uns für alle ändern Verluste entschädigt.« Mustafa Mannesmann schloß das Buch und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Eines von den vielen Dingen im Himmel und auf Erden, wovon sich jene Philosophen nicht träumen ließen, ist dies - « er machte eine umfassende Handbewegung, » - wir, die moderne Welt. ›Man kann von Gott nur unabhängig sein, solange man sich der Jugend und des Wohlergehens erfreut; Unabhängigkeit geleitet den Menschen nicht heil bis ans Ende.‹ Nun, und jetzt haben wir Jugend und Wohlergehen bis zum allerletzten Augenblick. Was folgt
daraus? Offenbar, daß wir von Gott unabhängig sein können.
›Das religiöse Gefühl entschädigt uns für alle Verluste.‹ Wir aber erleiden keine Verluste, für die wir entschädigt werden müßten; demnach ist das religiöse Gefühl überflüssig. Und wozu sollten wir einem Ersatz für jugendliche Triebe nachjagen, wenn der jugendliche Trieb nimmer aufhört? Einem Ersatz für
Zerstreuungen, wenn wir uns bis ganz zuletzt an den alten Narreteien erfreuen?
Wozu brauchen wir Ruhe, wenn unser Geist und Körper
weiter in Tatkraft schwelgen? Wozu Trost, wenn wir Soma haben? Wozu etwas Bleibendes,
wenn es die
Gesellschaftsordnung gibt?«
»Sie glauben also, daß es keinen Gott gibt?«
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»Im Gegenteil, höchstwahrscheinlich gibt es einen.«
»Also warum -?«
Der Aufsichtsrat winkte ab. »Er offenbart sich eben
verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise. In
vormodernen Zeiten offenbarte er sich als das Wesen, das in diesen Büchern beschrieben wird. Heute -«
»Wie offenbart er sich heute?« fragte der Wilde.
»Durch Abwesenheit. Als gäbe es ihn nicht.«
»Das ist eure Schuld.«
»Nennen Sie es die Schuld der Zivilisation. Gott ist
unvereinbar mit Maschinen, medizinischer Wissenschaft und allgemeinem Glück. Man muß wählen. Unsere Zivilisation hat Maschinen, Medizin und Glück gewählt. Darum muß ich diese Bücher in einem Stahlschrank verschlossen halten. Sie sind Schmutz und Schund. Die Leute wären empört, wenn -« Der Wilde unterbrach ihn. »Aber ist es denn nicht natürlich, zu fühlen, daß es einen Gott gibt?«
»Ebensogut könnten Sie fragen, ob es natürlich sei, die Hosen mit Zippverschluß zu schließen«, sagte der WAR ironisch. »Sie erinnern mich an einen anderen dieser alten Knaben. Er hieß Bradley. Philosophieren, sagte er, heißt, eine schlechte Begründung dafür finden, woran man instinktiv glaubt. Als ob der Mensch an irgend etwas instinktiv glaubte! Man glaubt an etwas, weil man zum Glauben daran genormt wurde. Schlechte Gründe dafür zu finden, woran man aus anderen schlechten Gründen glaubt, das ist Philosophie. Die Menschen glaubten an Gott, weil sie zum Glauben an Gott genormt wurden.«
»Und trotzdem«, beharrte der Wilde, »ist es natürlich, an Gott zu glauben, wenn man allein ist - ganz allein, in der Nacht, und an den Tod denkt...«
»Die Menschen sind heute nie allein«, entgegnete Mustafa Mannesmann. »Wir bringen sie dazu, die Einsamkeit zu hassen,
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und richten ihr ganzes Leben so ein, daß Einsamkeit für sie nahezu unmöglich ist.«
Der Wilde nickte düster. In Malpais hatte er gelitten, weil er von den gemeinschaftlichen Betätigungen des Pueblo
ausgeschlossen war. Im zivilisierten Berlin litt er, weil er den gemeinschaftlichen Betätigungen nicht entgehen, nie in Ruhe allein sein konnte.
»Erinnern Sie sich der Stelle im ›Lear‹?« fragte er endlich.
›»Die Götter sind gerecht: Aus unsern Lüsten erschaffen sie das Werkzeug, uns zu geißeln. Der dunkle, sünd'ge Ort, wo er dich zeugte, bracht' ihn um seine Augen! ‹ Und Edmund, verwundet, sterbend - Sie erinnern sich? -, antwortet: ›Wahr, o wahr! Ganz schlug das Rad den Kreis; ich unterliege.‹ Wie verhält es sich damit? Muß es nicht einen waltenden Gott geben, der
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