Schöne neue Welt
rechts, ging durch einen langen Korridor zu einer Tür mit der Aufschrift »Mädchengarderobe« und tauchte in ein verwirrendes Chaos von Armen, Busen und Unterwäsche. Sturzbäche heißen Wassers plätscherten in hundert Badewannen oder liefen gurgelnd ab. Achtzig rumpelnde und zischende Vibrovakuum-Massageapparate kneteten und saugten das feste, sonnengebräunte Fleisch von achtzig wohlgeratenen weiblichen Wesen. Jede redete unter Aufwand ihrer ganzen Stimmkraft. Ein Synthetofon spielte ein Supertrompetensolo.
»Tag Stinni«, sagte Lenina zu einem Mädchen, dessen Garderobenhaken und Schließfach sich neben den ihren befanden.
Stinni war im Flaschenfüllsaal beschäftigt und hieß mit Nachnamen gleichfalls Braun. Aber da den zwei Milliarden Erdbewohnern nur zehntausend Namen zur Verfügung standen, war dieser Zufall nicht besonders überraschend.
Lenina zog ihre Zippverschlüsse hinunter, an der Jacke, links und rechts an der Hose und an ihrer Unterwäsche.
Nur noch in Schuhen und Strümpfen ging sie zu den Badezellen.
Ein Heim, ein trautes Heim: ein paar enge Räume, zum Ersticken vollgepfropft mit Bewohnern, als da waren: ein Mann, ein in regelmäßigen Abständen trächtiges Weib, eine Horde Jungen und Mädchen aller Altersstufen. Keine Luft, kein Platz: ein verseuchter Kerker; Finsternis, Krankheit, Gestank.
Die Geisterbeschwörung des Aufsichtsrats war so lebhaft, daß ein zarter besaitetes Gemüt unter den Studenten erblaßte und nahe daran war, sich zu übergeben.
Lenina stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und ergriff ein langes, biegsames Rohr, das aus der Wand kam. Sie setzte die Düse an die Brust, als wollte sie Selbstmord begehen. Ein Druck auf den Knopf: ein Hauch warmer Luft überstäubte sie mit feinstem Talkpulver. Kleine Hähne für acht verschiedene Parfüms waren über dem Waschbecken angebracht. Sie drehte den dritten von links auf, besprühte sich mit Chypre und verließ, Schuhe und Strümpfe in der Hand, die Badezelle, um nachzusehen, ob ein Vibrovakuum-Apparat frei war.
Das traute Heim war ein Drecknest, und Körper wie Seele waren gleichermaßen davon betroffen. Ein seelischer Kaninchenstall, ein Misthaufen, dampfend von der Reibung zusammengepferchten Lebens, stinkend von Gefühlen.
Diese erstickende Nähe, diese gefährlichen, ungesunden, obszönen Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Die Mutter, diese Wahnwitzige, säugte ihre Kinder, ihre eigenen Kinder, wie eine Katze ihre Jungen, aber wie eine Katze, die sprechen kann, die ohne Unterlaß »Mein Kleines, mein Süßes« sagen kann. »Mein Baby da an der Brust, mit seinen Patschhändchen, und welchen Hunger es hat, und dieses unsägliche, peinigende Lustgefühl!
Und wenn es dann einschläft, mein Babylein, hat es ein Bläschen weißer Milch im Mundwinkelchen. Mein Kleines schläft -«
»Ja«, nickte Mustafa Mannesmann, »kein Wunder, daß Ihnen graut.«
»Mit wem gehst du heute abend aus?« fragte Lenina, als sie von der Massage zurückkam, rosig glühend gleich einer von innen beleuchteten Perle.
»Mit niemandem.«
Erstaunt zog Lenina die Brauen hoch.
»Seit einiger Zeit fühle ich mich so eigen«, erklärte Stinni. »Doktor Wells hat mir einen Schwangerschaftsersatz angeraten.«
»Aber, meine Liebe, du bist doch erst neunzehn. Der erste Schwangerschaftsersatz ist nicht vor einundzwanzig fällig.«
»Ich weiß, Schatz. Aber manche Leute fühlen sich wohler, wenn sie früher damit anfangen. Weitgebaute Brünette wie ich, sagte Doktor Wells, sollten ihren ersten Ersatz schon mit siebzehn nehmen. Ich bin also zwei Jahre zu spät dran, nicht zwei Jahre zu früh.« Sie öffnete ihren Wandschrank und wies auf eine Reihe Schächtelchen und etikettierter Fläschchen im oberen Fach.
»Corpus-luteum-Extrakt.« Lenina las laut die Aufschriften. »Ovarin, garantiert frisch, Verfalldatum: Erster August sechshundertzweiunddreißig nach Ford. Brustdrüsenextrakt, dreimal täglich mit einem Löffel Wasser vor den Mahlzeiten. Plazentin, jeden dritten Tag fünf Kubikzentimeter intravenös. Hu!« Sie schauderte. »Ich hasse Spritzen. Du nicht auch?«
»Ja. Aber wenn sie einem guttun...« Stinni war ein besonders vernünftiges Mädchen. Ford der Herr - oder Freud der Herr, wie er sich in seinem unerforschlichen Ratschluß nannte, wenn er von psychologischen Dingen sprach -, Freud der Herr hatte als erster die entsetzlichen Gefahren des Familienlebens enthüllt.
Die Welt war voller Väter - also voll von Elend;
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