Schöne neue Welt
voller Mütter - also voll von jeder Art von Perversion, vom Sadismus bis zur Keuschheit; voller Brüder, Schwestern, Onkel und Tanten - voll von Wahnsinn und Selbstmord.
»Doch unter den Wilden Samoas, auf einigen Inseln vor der neuguineischen Küste -«
Die tropische Sonne liegt wie warmer Honig auf den nackten Kinderkörpern, die sich in tollem Durcheinander unter den Hibiskusblüten wälzen. Jede der zwanzig mit Palmblättern gedeckten Hütten ist ein Heim. Auf den Trobriandinseln gilt Empfängnis als das Werk von Geistern der Vorzeit; niemand hat je etwas von einem Vater gehört.
»Die Gegensätze berühren einander«, sagte der Aufsichtsrat. »Mit gutem Grund, denn dazu sind sie da.«
»Doktor Wells sagt, ein Dreimonatsschwangerschaftsersatz wird entscheidenden Einfluß auf meine Gesundheit in den nächsten drei, vier Jahren haben.«
»Hoffentlich hat er recht«, meinte Lenina. »Aber, Stinni, soll das allen Ernstes heißen, daß du in den nächsten drei Monaten überhaupt nicht -«
»Aber nein, meine Liebe, natürlich nicht. Ein, zwei Wochen etwa, nicht länger. Ich werde die Abende eben im Klub verbringen und Musikbridge spielen. Du gehst aus, oder?«
Lenina nickte.
»Mit wem?«
»Mit Henry Päppler.«
»Schon wieder?« Auf Stinnis gutmütigem Mondgesicht erschien ein ihr im allgemeinen fremder Ausdruck schmerzlich mißbilligenden Staunens. »Willst du damit sagen, daß du noch immer mit Henry Päppler gehst?«Mütter und Väter, Brüder und Schwestern. Doch es gab auch Ehemänner, Gattinnen und Liebespaare - und Einehe und Romantik.
»Aber Sie wissen wahrscheinlich nicht, was das heißt«, sagte der Weltaufsichtsrat.
Die Studenten schüttelten die Köpfe.
»Familie, Einehe, Romantik. Überall Abgrenzungen gegen die Allgemeinheit, überall jegliches Interesse auf einen Punkt gerichtet, ein kleinmütiges Eindämmen aller Triebe und Kräfte.
Aber jedermann ist seines Nächsten Eigentum.« Mit diesem Spruch aus der Schlafschule schloß Mustafa Mannesmann.
Die Studenten nickten voller Überzeugung. Mehr als zweiundsechzigtausend Wiederholungen zur Schlafenszeit hatten ihnen diesen Spruch nicht nur als lautere Wahrheit, sondern als selbstverständlichen, einfach unumstößlichen Grundsatz eingeprägt.
»Aber ich gehe doch erst vier Monate mit Henry«, widersprach Lenina.
»Erst vier Monate! Hör sich das einer an! Und nicht genug damit«, fuhr Stinni mit vorwurfsvoll erhobenem Zeigefinger fort, »aber während der ganzen Zeit war da wohl kein anderer als Henry, wie?«
Lenina errötete tief, doch Blick und Stimme blieben trotzig. »Nein, kein anderer«, entgegnete sie fast heftig.
»Und wozu auch, möchte ich wissen?«
»Ach, wozu, möchte sie wissen!« echote Stinni, als spräche sie zu einem unsichtbaren Zuhörer hinter Leninas linker Schulter. Plötzlich änderte sie den Ton. »Allen Ernstes: ich glaube, du solltest vorsichtig sein. Es ist schrecklich ungehörig, so lange mit einem und demselben Mann zu gehen. Mit vierzig oder auch mit fünfunddreißig ist das vielleicht verzeihlich. Aber in deinem Alter, Lenina! Es gehört sich wirklich nicht. Außerdem weißt du doch, wie sehr der BUND gegen alle heftigen oder sich hinziehenden Affären ist. Vier Monate mit Henry Päppler, ohne einen anderen Mann daneben - also, er wäre einfach wütend, wenn er wüßte -«
»Denken Sie an den Wasserdruck im Leit ungsrohr!« Sie dachten daran. »Ich steche das Rohr an einer Stelle an«, sagte der Aufsichtsrat. »Welch ein Strahl!« Er stach es zwanzigmal an: zwanzig ruhig plätschernde Fontänen.
»Mein Kleines. Mein Kleines...«
»Mutter!« Der Wahn ist ansteckend.
»Mein Herzchen, mein Alles, mein teures -«
Mutterschaft, Monogamie, Romantik. Die Fontäne schießt hoch empor: wild schäumt der Wasserstrahl. Der Druck findet nur ein einziges Ventil. Mein Baby, mein Baby! Kein Wunder, daß diese armen Geschöpfe der vormodernen Zeit verrückt, verrucht und todunglücklich waren. Ihre Zeit ließ sie die Dinge nicht leichtnehmen, ließ sie nicht vernünftig, tugendhaft und glücklich sein. In jener Zeit von Mutterschaft und Liebesweh, von Verboten, deren Einhaltung ihnen nicht angenormt war, von Versuchungen und einsamer Reue, von allen möglichen Krankheiten und endlosem vereinsamendem Schmerz, ewiger Ungewißheit und Armut, mußten sie notgedrungen leidenschaftliche Gefühle entwickeln. Und mit ihren leidenschaftlichen Gefühlen - jedes Individuum noch dazu hoffnungslos einsam auf sich selbst
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