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Schöne neue Welt

Schöne neue Welt

Titel: Schöne neue Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aldous Huxley
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den Kummer um die Winkel des ernsten, karminroten Mundes. »Du bist doch nicht am Ende krank?« erkundigte er sich, ein wenig besorgt, daß sie vielleicht gar an einer der wenigen noch immer nicht ausgerotteten Infektionskrankheiten leide.
    Zum dritten Mal schüttelte Lenina den Kopf.
    »Jedenfalls geh nur hübsch zum Arzt«, empfahl Henry.
    »Je bedrückter, je verstockter, desto nötiger der Doktor«, sagte er treuherzig und brachte diesen Schlafschultrostspruch mit einem Klaps auf die Schulter an. »Vielleicht brauchst du einen Schwangerschaftsersatz«, meinte er, »oder eine besonders starke TLE-Kur. Manchmal, weißt du, genügt die übliche Behandlung nicht ganz...«
    »Um Fords willen, halt den Mund!« brach Lenina ihr hartnäckiges Schweigen und wandte sich wieder den vernachlässigten Embryos zu.
    Eine TLE-Kur, ha! Sie hätte laut auflachen mögen, wenn ihr nicht zum Weinen gewesen wäre. Als ob sie nicht genug natürliche TL besessen hätte! Tief seufzend füllte sie die Spritze wieder. »Michel«, murmelte sie vor sich hin, »ach, Michel... Du lieber Ford«, überlegte sie, »habe ich nun dem da seine Injektion gegen Schlafkrankheit gegeben oder nicht?« Sie konnte sich einfach nicht mehr erinnern.
    Zuletzt entschied sie sich dafür, ihn lieber nicht der Gefahr einer doppelten Dosis auszusetzen, und wandte sich der nächsten Flasche zu.
    Zweiundzwanzig Jahre, acht Monate und vier Tage nach diesem Augenblick geschah es, daß ein vielversprechender junger alpha- minus Verwaltungsbeamter in Mbansa-Mbansa an Trypanosomiasis starb - der erste Fall seit mehr als einem halben Jahrhundert. Seufzend setzte Lenina ihre Arbeit fort.
    Eine Stunde später erging sich Stinni im Umkleideraum in heftigen Vorwürfen. »Das ist ja geschmacklos, einen Zustand so weit zu treiben! Einfach geschmacklos. Und warum das alles? Wegen eines Mannes. Eines einzigen Mannes!«
    »Aber er ist der Mann, den ich will.«
    »Es gibt Millionen andere.«
    »Die will ich aber nicht.«
    »Woher weißt du das, wenn du es nicht mit ihnen versucht hast?«
    »Ich habe es versucht.«
    »Mit wie vielen denn?« fragte Stinni, geringschätzig die Achseln zuckend. »Einem, zweien?«
    »Dutzenden.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber es half nichts.«
    »Du darfst dich nicht entmutigen lassen«, sagte Stinni salbungsvoll, doch ihr Vertrauen auf ihr Rezept war sichtlich erschüttert. »Nur Ausdauer führt zum Ziel.«
    »Aber unterdessen -«
    »Denk nicht an ihn!«
    »Ich muß aber.«
    »Dann nimm Soma!«
    »Das tue ich ja.«
    »Nimm weiter Soma.«
    »Aber in den Zwischenzeiten habe ich ihn doch noch gern. Und werde ihn immer gern haben.«
    »Nun«, sagte Stinni sehr entschieden, »warum gehst du dann nicht einfach hin und nimmst ihn dir? Ob er will oder nicht.«
    »Du ahnst ja nicht, wie furchtbar absonderlich er ist.«
    »Ein Grund mehr, energisch vorzugehen.«
    »Das ist leicht gesagt.«
    »Laß dir den Unsinn nicht einfallen. Handle!« Ihre Stimme war Trompetenschall; sie hätte einen Vortrag für heranwachsende Beta- minusse im Bund Weltlicher Mädchen halten können.
    »Handle, und zwar gleich! Auf der Stelle!«
    »Ich werde mich zu Tode fürchten«, wandte Lenina ein.
    »Du brauchst vorher nur ein ha lbes Gramm Soma zu nehmen. So, und jetzt gehe ich baden.« Sie schlenderte davon, ihr Badetuch nachschleifend.
    Es klingelte. Der Wilde, voll ungeduldiger Erwartung, daß Helmholtz an diesem Nachmittag kommen werde, sprang auf und lief zur Tür. Er hatte sich endlich entschlossen, mit Helmholtz über Lenina zu sprechen, und ertrug den Aufschub seiner Geständnisse keinen Augenblick länger.
    »Ich ahnte, daß du es sein würdest, Helmholtz!« rief er beim Öffnen.
    Auf der Schwelle stand, in einem Matrosenanzug aus weißem Azetatsatin, ein weißes Barett kokett auf das linke Ohr gestülpt, Lenina.
    »Oh!« entrang es sich dem Wilden, als hätte ihm jemand einen wuchtigen Schlag auf den Schädel versetzt.
    Mit einem halben Gramm im Leib hatte sich Lenina stark genug gefühlt, ihre Ängste und Hemmungen zu vergessen. »Tag, Michel«, sagte sie lächelnd und trat an ihm vorbei ins Zimmer. Mechanisch schloß er die Tür und folgte ihr. Sie setzte sich. Langes Schweigen.
    »Sie scheinen ja über meinen Besuch nicht sehr erfreut zu sein, Michel?« bemerkte sie endlich.
    »Nicht erfreut?« Vorwurfsvoll blickte er sie an. Und plötzlich fiel er vor ihr auf die Knie, ergriff die Hand und küßte sie ehrfürchtig. »Nicht erfreut! Ach, wenn Sie nur wüßten!«

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