Schöne Ruinen
jüngeres Ich, das glaubte, wenn es Regeln und Konventionen wie die Ehe nicht beachtete, hatten sie keine Macht über sie. Sie spürte keine Verbindung mehr zu diesem jüngeren Ich.
Der starke, selbstsichere Alvis nahm ihre Vorgeschichte mit Ron achselzuckend hin und forderte sie auf, sich um die Rolle zu bewerben. Das machte sie, und sie bekam sie. Doch nach Beginn der Proben musste Debra feststellen, dass Ron eine Verbindung zwischen sich und Millers Protagonisten Quentin herstellte. Eigentlich identifizierte er sich mit Arthur Miller, dem Genie, das auf eine oberflächliche, junge, niederträchtige Schauspielerin hereingefallen war – und diese oberflächliche, junge, niederträchtige Schauspielerin war natürlich sie.
Im Theater verschob Debra die Beine, bis sie seine nicht mehr berührten. »Hör zu, Ron, was zwischen uns passiert ist …«
Er schnitt ihr das Wort ab: »Was passiert ist? Das klingt ja wie ein Autounfall.« Dann legte er ihr die Hand aufs Bein.
Manche Erinnerungen bleiben lebhaft; ich schließe die Augen und bin wieder mitten im Geschehen. Das sind die Erinnerungen in der ersten Person – die Ich-Erinnerungen. Aber es gibt auch Erinnerungen in der zweiten Person, ferne Du-Erinnerungen, die heikler sind: Ungläubig beobachtest du dich – wie zum Beispiel bei der Abschlussfeier von Viel Lärm um nichts im alten Playhouse 1961, als du Ron verführt hast. Wie ein Film ziehen die Ereignisse an dir vorbei; du bist da oben auf der Leinwand und machst diese furchtbaren, kaum begreiflichen Dinge: diese andere Debra, so geschmeichelt von Rons Aufmerksamkeit, dem Pfeife rauchenden Schauspieler, der in New York gelernt hat und schon in kleineren Theatern aufgetreten ist, und auf dieser Party bugsierst du ihn in eine Ecke, plapperst über deine albernen Pläne (Ich will alles machen: Theater und Film) , bist zuerst kokett, dann aggressiv, dann wieder scheu und beherrschst deinen Text perfekt (Nur eine Nacht) , fast als wolltest du die Grenzen deiner Macht erproben –
Doch jetzt, in dem leeren Theater, nahm sie seine Hand weg. »Ron, ich bin verheiratet.«
»Also wenn ich verheiratet bin, ist es in Ordnung. Aber deine Beziehungen sind … heilig?«
»Nein. Wir sind einfach … älter. Da sollten wir auch klüger sein, oder?«
Er kaute auf seiner Unterlippe herum und starrte auf einen Punkt hinten im Theater. »Dee, ich will ja nicht gemein klingen, aber ein … Alkoholiker Mitte vierzig? Ein Gebrauchtwagenhändler? Das soll die Liebe deines Lebens sein?«
Sie zuckte zusammen. Alvis hatte sie zweimal nach der Probe abgeholt und sich jeweils vorher ein paar Drinks genehmigt. Ungeduldig schüttelte sie die Erinnerung ab. »Ron, wenn du mir die Rolle gegeben hast, weil du glaubst, dass zwischen uns noch was unbeendet ist, dann kann ich nur sagen, du täuschst dich. Die Sache ist vorbei. Wie oft haben wir miteinander geschlafen? Zweimal? Du musst das endlich hinter dir lassen, wenn wir dieses Stück zusammen machen wollen.«
»Es hinter mir lassen? Worum geht es denn deiner Meinung nach in dem Stück, Dee?«
»Debra. Ich heiße jetzt Debra, nicht Dee. Und das Stück dreht sich nicht um uns, Ron. Es dreht sich um Arthur Miller und Marilyn Monroe.«
Er nahm die Brille ab und setzte sie wieder auf. Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Er holte tief und bedeutungsvoll Luft. Marotten eines Schauspielers, der jeden Augenblick behandelte, als wäre er nicht nur für ihn geschrieben worden, sondern als wäre es die zentrale Szene in der Aufführung seines Lebens. »Hast du dir schon mal überlegt, dass das vielleicht der Grund ist, warum du es als Schauspielerin nie geschafft hast? Denn bei den Großen, Dee … Debra … dreht es sich um sie! Es dreht sich immer um sie!«
Und das Eigenartige war, er hatte vollkommen recht. Sie musste es wissen. Denn sie hatte die Großen aus der Nähe gesehen, und sie lebten wie Cleopatra und Antonius, wie Katharina und Petruchio, als wäre das Stück mit ihrem Abgang zu Ende, als würde die Welt stillstehen, wenn sie die Augen schlossen.
»Du merkst überhaupt nicht, wie du bist.« Ron hatte sich in Fahrt geredet. »Du benutzt die Menschen. Spielst mit ihrem Leben und behandelst sie wie Dreck.« Die Worte gaben ihr einen vertrauten Stich, und Debra vermochte nichts zu erwidern. Dann stürmte Ron zurück zur Bühne und ließ Debra allein auf ihrem Theaterplatz sitzen. »Das wär’s für heute!«, brüllte er.
Sie rief zu Hause an. Die Babysitterin Emma, die
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