Schöne Ruinen
eigentlich nichts verloren hatte. In den ersten zwei Jahren nach ihrer Rückkehr nach Seattle war sie der alten Theaterclique aus dem Weg gegangen, weil sie weder ihr Kind noch das Ende ihrer »Filmkarriere« erklären wollte. Dann sah sie eine Anzeige für eine Spendenaktion im Post-Intelligencer und gestand sich ein, wie sehr ihr diese Welt fehlte. Bei der Party spürte sie eine Vertrautheit und Geborgenheit, als würde sie in den Gängen ihrer alten Highschool herumstreifen. Und dann bemerkte sie Ron, die Fonduegabel in der Hand wie ein winziger Teufel. In den Jahren ihrer Abwesenheit hatte Ron in der örtlichen Theaterszene große Erfolge gefeiert, und sie freute sich ehrlich, ihn wiederzusehen. Doch als sie ihm den älteren Mann an ihrer Seite vorstellte – Ron, das ist mein Mann Alvis – wurde er auf einmal blass und verließ die Party.
»Ich hab einfach das Gefühl, dass du das Stück irgendwie so … persönlich nimmst«, erklärte Debra.
»Das Stück ist persönlich.« Ron meinte es völlig ernst. Er nahm die Brille ab und kaute an einem der Bügel. »Alle Theaterstücke sind persönlich, Dee. Alle Kunstwerke sind persönlich. Was hätten sie sonst für einen Sinn? Das ist das Persönlichste, was ich je gemacht habe.«
Zwei Wochen nach der Spendenaktion hatte Ron angerufen und sich für sein plötzliches Verschwinden entschuldigt. Er war einfach nicht darauf vorbereitet gewesen, sie zu sehen. Er fragte, was sie inzwischen mache. Sie war Hausfrau. Ihr Mann hatte eine Chevrolet-Filiale in Seattle, und sie zog ihren kleinen Jungen auf. Ron fragte, ob sie die Schauspielerei vermisse, und sie murmelte etwas davon, dass ihr die Auszeit ganz guttue. Doch in Wirklichkeit dachte sie: Ich vermisse sie, wie ich die Liebe vermisse. Ohne sie bin ich nur ein halber Mensch.
Einige Wochen später erzählte ihr Ron am Telefon, dass er am Rep Theatre ein Stück von Arthur Miller inszeniere. Hatte sie Interesse, für eine der Hauptrollen vorzusprechen? Es verschlug ihr den Atem, und ihr wurde schwindlig wie einer Zwanzigjährigen. Doch vermutlich hätte sie abgelehnt, wenn sie nicht gerade den letzten Film von Dick und Liz gesehen hätte. Ausgerechnet Der Widerspenstigen Zähmung . Es war ihr fünfter gemeinsamer Film. Debra hatte sich nicht überwinden können, die ersten anzuschauen, aber im letzten Jahr waren sowohl Burton als auch Taylor für Wer hat Angst vor Virginia Woolf? für Oscars nominiert worden, und sie fragte sich, ob sie sich geirrt hatte mit ihrer Meinung, dass Dick sein Talent verschwendete. Dann fiel ihr in einer Zeitschrift eine Anzeige für Der Widerspenstigen Zähmung auf – »Das gefeiertste Kinopaar der Welt … in einem Film, der für sie geschaffen wurde!« –, und sie nahm eine Babysitterin, schützte einen Arzttermin vor und ging zu einer Matinee, ohne Alvis davon zu erzählen. Und so ungern sie es auch zugab, der Film war fabelhaft. Dick war wundervoll und spielte den betrunkenen Petruchio in der Hochzeitsszene so kunstreich und aufrichtig, als wäre er für die Rolle geboren – was natürlich zutraf. All das – Shakespeare, Liz, Dick, Italien – legte sich über sie wie ein Leichentuch, und sie weinte im Kino aus Trauer um den Verlust ihrer Ambitionen und Träume. Das alles hast du aufgegeben , sagte eine innere Stimme. Nein , dachte sie, sie haben es mir weggenommen. Sie blieb, bis nach dem Abspann die Lichter angingen, und selbst dann blieb sie noch sitzen, ganz allein.
Zwei Wochen danach bot ihr Ron die Rolle in dem Stück an. Debra legte den Hörer auf und merkte, dass sie wieder weinte. Pat legte sein Spielzeug weg und fragte: »Was ist, Mama?« Und am Abend, als Alvis von der Arbeit nach Hause kam und sie ihre Martini-Aperitifs tranken, erzählte ihm Debra von dem Anruf. Er freute sich für sie. Er wusste, wie sehr ihr die Schauspielarbeit fehlte. Sie gab den Advocatus Diaboli: Was war mit Pat? Alvis zuckte die Achseln; sie konnten einen Babysitter engagieren. Aber vielleicht war der Zeitpunkt schlecht. Alvis lachte bloß. Doch eine Sache wollte Debra nicht unerwähnt lassen: Der Regisseur war ein gewisser Ron Frye, mit dem sie vor ihrem Aufbruch nach Hollywood und später nach Italien eine kurze, dumme Affäre gehabt hatte. Ohne große Leidenschaft, betonte sie, eigentlich hatte eher die Langeweile sie dazu bewogen oder vielleicht die Anziehung, die sie auf ihn ausübte. Und Ron war damals verheiratet. Ah, machte Alvis. Aber zwischen uns ist nichts, beteuerte sie. Das war ihr
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