Schöne Ruinen
Nachbarstochter, erzählte, dass Pat wieder den Fernsehschalter abgebrochen hatte. Debra hörte, wie er in der Küche auf Töpfen herumtrommelte. »Pat, ich telefoniere gerade mit deiner Mom.«
Das Trommeln wurde lauter.
»Wo ist sein Dad?«, fragte Debra.
Emma berichtete, dass Alvis von der Firma aus angerufen und sie gebeten hatte, bis zehn Uhr abends auf Pat aufzupassen. Er hatte nach der Arbeit einen Tisch im Trader Vic’s bestellt, und Debra sollte sich in dem Restaurant mit ihm treffen.
Debra schaute auf die Uhr. Kurz vor sieben. »Wann hat er angerufen, Emma?«
»Gegen vier.«
Vor drei Stunden? Da hatte er unter Umständen schon sechs Cocktails intus – mindestens vier, wenn er nicht direkt zur Bar marschiert war. Selbst für Alvis war das ein gewaltiger Vorsprung. »Danke, Emma. Wir kommen bald nach Hause.«
»Äh, Mrs. Bender. Letztes Mal sind Sie erst nach Mitternacht heimgekommen, und ich hatte am nächsten Tag Schule.«
»Ich weiß, Emma. Tut mir leid. Diesmal sind wir früher da, versprochen.« Debra legte auf, schlüpfte in ihre Jacke und trat hinaus in die kühle Herbstluft. Der leichte Regen schien vom Boden aufzusteigen. Rons Wagen stand noch auf dem Parkplatz, und sie lief eilig zu ihrem Corvair, kletterte hinein und drehte den Schlüssel um. Nichts. Sie probierte es noch einmal. Wieder nichts.
In den ersten zwei Jahren ihrer Ehe hatte ihr Alvis alle sechs Monate einen neuen Chevy aus seinem Geschäft geschenkt. Doch in diesem Jahr hatte sie gesagt, dass es nicht nötig war, und den Corvair behalten. Und jetzt hatte der Wagen ein Problem mit dem Anlasser: typisch. Sie überlegte, ob sie im Trader Vic’s anrufen sollte, doch es waren nur zehn oder zwölf Blocks an der Fifth Avenue. Sie konnte die Monorail nehmen. Doch nachdem sie ausgestiegen war, beschloss sie, lieber zu Fuß zu laufen. Alvis würde sich bestimmt ärgern – etwas, was er an Seattle hasste, war die schäbige Innenstadt, durch die ihr Weg zum Teil führte. Doch ein kleiner Spaziergang half ihr bestimmt, nach der üblen Auseinandersetzung mit Ron wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Sie schlug ein flottes Tempo an und hielt den Regenschirm nach vorn, um den lästigen Dunst abzuwehren. Unterwegs stellte sie sich vor, was sie Ron hätte erwidern sollen (Ja, Alvis IST die Liebe meines Lebens) . Wieder kamen ihr seine bissigen Worte in den Sinn (Du benutzt die Menschen … behandelst sie wie Dreck) . So ähnlich hatte sie selbst bei ihrer ersten Verabredung mit Alvis das Film-Business beschrieben. Als sie nach Seattle zurückkehrte, hatte sich die Stadt verändert. Alles brodelte nur so vor Verheißung. Früher war ihr alles so klein vorgekommen, doch vielleicht war sie selbst nach den Ereignissen geschrumpft und kam geschlagen in eine Stadt zurück, die sich im Glanz der Weltausstellung sonnte. Sogar ihre alten Freunde vom Theater hatten eine neue Spielstätte auf dem Messegelände. Debra machte einen Bogen um die Ausstellung und das Theater, ebenso wie um Cleopatra , nachdem der Film herausgekommen war – allerdings las und genoss sie ein wenig beschämt die schlechten Rezensionen. Sie zog bei ihrer Schwester ein, um erst einmal »ihre Wunden zu lecken«, wie Darlene so treffend bemerkte. Zunächst hatte sie vor, das Baby zur Adoption freizugeben, doch Darlene überredete sie, es zu behalten. Debra erzählte ihrer Familie, dass der Vater ein italienischer Hotelier war, und diese Lüge brachte sie auf die Idee, das Kind nach Pasquale zu benennen. Als Pat drei Monate alt war, ging sie wieder zu Frederick and Nelson, um im Men’s Grill zu arbeiten. Als sie eines Tages einem Gast ein Ginger Ale einschenkte, blickte sie auf und sah eine vertraute Gestalt: hochgewachsen, dünn und gut aussehend, mit leicht nach vorn gebeugten Schultern und ergrauten Schläfen. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich erinnerte: Alvis Bender, Pasquales Freund.
»Hallo, Dee«, sagte er.
»Ihr Schnurrbart ist verschwunden«, antwortete sie. »Ich heiße jetzt Debra. Debra Moore.«
» Entschuldigung, Debra.« Alvis setzte sich an die Theke. Er erzählte ihr, dass sein Vater vorhatte, ein Autohaus in Seattle zu eröffnen, und Alvis losgeschickt hatte, um die Lage zu sondieren.
Es war merkwürdig, in Seattle auf Alvis zu treffen. Italien kam ihr inzwischen wie ein jäh unterbrochener Traum vor; jemanden aus dieser Zeit vor sich zu haben war wie ein Déjà-vu, wie die Begegnung mit einer literarischen Figur auf der Straße. Doch er war charmant und
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