Schöne Ruinen
unterhaltsam, und es war eine Erleichterung für sie, auf jemanden zu treffen, der ihre ganze Geschichte kannte. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sich das Belügen ihrer gesamten Umgebung angefühlt hatte, als hätte sie ein Jahr lang den Atem angehalten.
Am nächsten Tag kam Alvis wieder zum Mittagstisch und sagte, dass er ihr etwas gestehen musste: Es war kein Zufall, dass er sie gefunden hatte. In den letzten Tagen in Italien hatte sie ihm von sich erzählt – sie waren zusammen im Boot nach La Spezia gefahren, und er hatte sie im Zug zum Flughafen in Rom begleitet – und auch von ihren Plänen, nach Seattle zurückzukehren. Was sie dort machen wolle, hatte Alvis gefragt. Sie hatte die Achseln gezuckt. Früher hatte sie in einem großen Kaufhaus gearbeitet, vielleicht mache sie das wieder. Und als sein Vater erwähnte, dass er eine Filiale in Seattle plane, stürzte sich Alvis auf die Gelegenheit, ihr wieder zu begegnen.
Zuvor hatte er es in anderen Kaufhäusern probiert – Bon Marché und Rhodes –, dann erzählte ihm jemand aus der Parfümabteilung von Frederick and Nelson, dass hier eine große Blondine namens Debra arbeitete, eine ehemalige Schauspielerin.
»Sie haben also den weiten Weg nach Seattle auf sich genommen … nur um mich zu finden?«
»Wir wollen hier wirklich eine Filiale aufmachen. Aber ich habe auch gehofft, Sie zu sehen.« Er ließ den Blick über die Theke streichen. »Wissen Sie noch, in Italien haben Sie gesagt, dass Ihnen mein Buch gefällt, und ich musste zugeben, dass ich Schwierigkeiten hatte, es zu beenden. Darauf haben Sie gemeint: ›Vielleicht ist es beendet. Vielleicht ist das alles.‹ Erinnern Sie sich?«
»Oh, das sollte nicht heißen …«
»Nein, nein«, unterbrach er sie. »Schon gut. Ich hatte sowieso schon seit fünf Jahren nichts Neues mehr geschrieben. Hab immer nur das eine Kapitel umgearbeitet. Aber Ihre Bemerkung war wie eine Befreiung, ich konnte mir eingestehen, dass ich nicht mehr zu sagen hatte als dieses eine Kapitel, und endlich weiterleben.« Er lächelte. »Im nächsten Jahr bin ich nicht mehr nach Italien gefahren. Ich glaube, das habe ich hinter mir. Ich bin bereit für was anderes.«
Die Art, wie er diese Worte aussprach – was anderes – , kam ihr seltsam vertraut vor; sie hatte sich das Gleiche vorgenommen. »Und was haben Sie jetzt vor?«
»Na ja«, antwortete er. »Darüber wollte ich mit Ihnen reden. Am liebsten würde ich jetzt … ein wenig Jazz hören.«
Sie lächelte. »Jazz?«
Genau. Der Portier seines Hotels hatte einen Club an der Cherry Street erwähnt, am Fuß des Hügels.
»Das Penthouse.«
Theatralisch tippte er sich auf die Nase. »Das ist es.«
Sie lachte. »Sie wollen also mit mir ausgehen, Mr. Bender?«
Um seine Mundwinkel zuckte es. »Das hängt ganz von Ihrer Antwort ab, Miss Moore.«
Sie musterte ihn mit einem langen, forschenden Blick – Fragezeichenhaltung, schmales Gesicht, modische braune, leicht ergraute Haartolle – und dachte sich: Klar, warum nicht.
Ja, Ron: Das war die Liebe ihres Lebens.
Einen Block vor dem Trader Vic’s bemerkte sie Alvis’ geparkten Biscayne, dessen einer Reifen halb über den Bordstein ragte. Hatte er schon in der Arbeit getrunken? Sie warf einen Blick in den Wagen, doch mit Ausnahme einer kaum angerauchten Zigarette im Aschenbecher deutete nichts darauf hin, dass er über die Stränge geschlagen hatte.
Das Restaurant empfing sie mit einem Schwall warmer Luft und einem Gewirr aus Bambus, Fackeln, Totempfählen und einem Einbaum an der Decke. Sie schaute sich in dem mit Strohmatten ausgelegten Saal nach ihm um, doch überall auf den breiten, runden Stühlen saßen angeregt plaudernde Paare, und sie konnte ihn nicht entdecken. Kurz darauf tauchte neben ihr der Geschäftsführer Harry Wong mit einem Mai Tai auf. »Ich glaube, Sie müssen aufholen.« Er deutete zu einem Tisch weit hinten, wo Alvis auf einem großen Korbstuhl saß, dessen Rückenlehne seinen Kopf umrankte wie ein Renaissance-Heiligenschein. Er tat, was er am besten konnte: trinken und reden. Sein Vortrag galt einem Kellner, der alles versuchte, um sich wegzustehlen. Doch Alvis hatte ihn mit einer seiner großen Hände am Arm gepackt, und der arme Junge steckte fest.
Sie nahm den Drink. »Danke, dass er noch aufrecht sitzt, Harry.« Sie neigte das Glas, und das Gemisch aus süßem Likör und Rum lief ihr die Kehle hinunter. Erstaunt merkte Debra, dass sie den Cocktail halb geleert hatte. Mit Augen, über die sich ein
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