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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
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und sich beim Sturz zu Boden an seiner Erektion aufspießt.
    »Michael! Alles in Ordnung?«, fragt Kathy. »Hast du wieder einen Schlaganfall?«
    Dee Moray.
    So ist das also mit Geistern, denkt Michael. Keine weißen, leibhaftigen Wesen, die in Träumen herumspuken, sondern Namen aus längst vergangenen Zeiten, die aus einem Handy schwirren.
    Er winkt ab und greift nach dem Telefon. »Es ist kein Schlaganfall, Kathy, lass mich los.« Er konzentriert sich auf seinen Atem. Man wird so selten mit dem vollen Umfang des eigenen Lebens konfrontiert. Doch hier steht Michael Deane mit seiner von einer chemiegestützten Erektion ausgebeulten Pyjamahose in der offenen Küche seines Hauses in den Hollywood Hills und spricht in ein winziges drahtloses Telefon, vor seinen Augen einen Abgrund von fünfzig Jahren: »Bleibt, wo ihr seid. Ich bin sofort bei euch.«
    Auf den ersten Blick hinterlässt Michael Deane den Eindruck eines aus Wachs gegossenen oder vielleicht vorzeitig einbalsamierten Mannes. Nach so vielen Jahren ist es wohl nicht mehr möglich, die genaue Reihenfolge der Gesichts- und Kurbehandlungen, Schlammbäder, kosmetischen Eingriffe, Liftings, Kollagenimplantate, ambulanten Nachbesserungen, Solariumbesuche, Botoxinjektionen, Zysten- und Geschwulst entfernungen und Stammzellentherapien nachzuvollziehen, die einem Zweiundsiebzigjährigen das Gesicht einer neunjährigen Filipina verliehen haben.
    So möge der Hinweis genügen, dass viele Menschen Michael bei der ersten Begegnung mit offenem Mund anstarren und den Blick nicht abwenden können von seinem glänzenden, nur entfernt lebensechten Gesicht. Manchmal neigen sie sogar den Kopf, um eine bessere Perspektive zu bekommen, und Michael verwechselt ihre morbide Faszination mit Anziehung, Respekt oder Staunen darüber, dass jemand in seinem Alter noch so gut aussehen kann, und dieses grundlegende Missverständnis veranlasst ihn dazu, den Alterungsprozess noch aggressiver zu bekämpfen. Nicht nur, dass er mit jedem Jahr jünger erscheint, das findet man hier ziemlich häufig; es ist, als würde er sich irgendwie in einen völlig anderen Menschen verwandeln. Und diese Verwandlung entzieht sich jeder Erklärung. Sich ausgehend von seinem heutigen Äußeren vorzustellen, wie Michael Deane vor fünfzig Jahren als junger Mann in Italien ausgesehen hat, ist, als wollte man sich, auf der Wall Street stehend, ein Bild von der Topografie von Manhattan Island vor der Ankunft der Niederländer machen.
    Als diese sonderbare Gestalt auf ihn zusteuert, hat Shane Wheeler sichtlich Mühe, sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass dieser lackierte Elf der berühmte Michael Deane ist. »Ist das …?«
    »Ja«, antwortete Claire schlicht. »Versuchen Sie, nicht zu gaffen.«
    Aber das ist, als würde sie ihm befehlen, in einem Wolkenbruch trocken zu bleiben. Vor allem das Schlurfen des Produzenten ist einfach zu viel, als wäre das Gesicht eines Jungen auf den Körper eines Sterbenden verpflanzt worden. Er ist auch so merkwürdig gekleidet in einen Seidenpyjama und eine lange Wolljacke, die ihm fast zu den Knien reicht. Ohne ihren Hinweis hätte Shane sicher eher auf einen entflohenen Nervenklinikpatienten getippt als auf einen der berühmtesten Hollywoodproduzenten.
    »Danke für den Anruf, Claire.« Als er bei ihnen ist, deutet Michael auf die Tür zum Bungalow. »Der Italiener ist dort drin?«
    »Ja. Wir haben ihm versprochen, dass wir gleich wieder zurückkommen.« So erschüttert hat Claire ihren Chef noch nie erlebt; sie versucht sich vorzustellen, was zwischen den beiden passiert sein und was Michael so verstört haben könnte, dass er vom Auto aus angerufen und Claire und den »Übersetzer« gebeten hat, sich draußen mit ihm zu treffen, ehe er Pasquale gegenübertreten muss.
    »Nach so vielen Jahren«, lässt sich Michael vernehmen. Normalerweise redet er in abgehackter Hast wie ein Gangster aus den Vierzigern. Doch jetzt wirkt seine Stimme angespannt und unruhig. Nur sein Gesicht bleibt bemerkenswert neutral und gelassen.
    Claire macht einen Schritt auf Michael zu und fasst ihn am Arm. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Mir geht’s gut.« Erst jetzt sieht er Shane an. »Sie müssen der Übersetzer sein.«
    »Na ja, ich habe ein Jahr in Florenz studiert, deswegen kann ich ein bisschen Italienisch. Aber eigentlich bin ich Autor. Ich bin hier, um eine Filmidee vorzustellen – Shane Wheeler.«
    Michael Deanes Gesicht ist nicht anzumerken, ob er die Worte verstanden

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