Schöne Ruinen
Davor war sich Shane Wheeler immer sicher, zu Großem berufen zu sein. Alle bestärkten ihn in dieser Überzeugung – nicht bloß seine Eltern, auch Fremde –, und obwohl er am College, in Europa und im Studium (alles auf Kosten seiner Eltern, wie ihm Saundra gern unter die Nase rieb) nicht unbedingt Bäume ausriss, zweifelte er nie an seiner erfolgreichen Zukunft.
Doch als es mit seiner kurzen Ehe zu Ende ging, skizzierte Saundra (unterstützt von der übellaunigen Eheberaterin, die sich klar auf ihre Seite schlug) ein ganz anderes Muster: einen Jungen, dessen Eltern nie Nein sagten, die nie von ihm verlangten, im Haushalt mitzuhelfen oder sich eine Arbeit zu suchen, die eingriffen, wenn er in Schwierigkeiten geriet (Beweisstück A: der Zusammenstoß mit der mexikanischen Polizei in den Frühjahrsferien), die ihn viel zu lange finanziell unterstützten. So kam es, dass er Ende zwanzig noch nie einen richtigen Job gehabt hatte. So kam es, dass er sieben Jahre nach dem College, zwei Jahre nach seinem Masterabschluss und verheiratet von seiner Mutter immer noch ein monatliches Taschengeld für Kleider bekam. (Sie kauft mir eben gern Sachen zum Anziehen , wandte Shane ein. Es wäre doch grausam, wenn ich es ihr verbieten würde.)
In diesem düsteren letzten Ehemonat musste er eine Art Vivisektion seiner Männlichkeit über sich ergehen lassen, in deren Verlauf Saundra ihn mit der Beteuerung zu »trösten« versuchte, dass es nicht allein seine Schuld war; er war Teil einer missratenen Generation junger Männer, die von ihren Eltern – und vor allem von ihren Müttern – verhätschelt und zu einem ungerechtfertigten Selbstwertgefühl angespornt worden waren, bis sie nur noch in einem Luftschloss übertriebener Fürsorge und Anerkennung lebten.
Männer wie du mussten nie kämpfen, deswegen hast du keinen Mumm , erklärte sie. Männer wie du wachsen saft- und kraftlos auf. Männer wie du sind Milchkälber.
Und was das Milchkalb Shane als Nächstes tat, bestätigte nur ihre Ansicht: Nach einem besonders hitzigen Streit fuhr Saundra zur Arbeit, und er haute mit dem gemeinsam gekauften Auto ab, um in Costa Rica auf einer Plantage zu arbeiten, von der ihm Freunde erzählt hatten. Doch der Wagen blieb in Mexiko liegen, und Shane machte sich ohne Geld und Auto auf den Rückweg nach Portland, um wieder bei seinen Eltern einzuziehen.
Inzwischen bedauert er sein Verhalten und hat sich bei Saundra entschuldigt; in unregelmäßigen Abständen schickt er ihr sogar Schecks für ihren Anteil an dem Auto (zum größten Teil Geburtstagsgeld von seinen Großeltern) mit dem Versprechen, bald auch den Rest seiner Schulden bei ihr zu begleichen.
Das Schmerzlichste an Saundras Milchkalbtirade (wie er es für sich bezeichnet) ist nicht ihre Richtigkeit, die unbestreitbar ist. Ja, sie hat recht, das sieht er ein. Das eigentlich Schlimme daran ist, dass er es nicht schon früher kapiert hat. Oder wie Saundra es staunend ausdrückte: Anscheinend glaubst du wirklich an deine Scheiße. Und so war es. Er glaubte wirklich an seine Scheiße. Doch jetzt, nachdem sie ihm seine Illusionen um die Ohren gehauen hat, glaubt er nicht mehr daran.
In den ersten Monaten nach der Scheidung fühlte sich Shane leer und allein in seiner Erniedrigung. Ohne den alten Glauben an die langsame Entfaltung seiner Talente trieb Shane steuerlos dahin und versank in den Tiefen der Depression.
Und deshalb muss er, so erkennt er jetzt, diese zweite Chance nutzen und beweisen, dass HANDLE nicht bloß ein Motto oder ein Tattoo ist, das kindliche Träume ausdrückt, sondern die Wahrheit. Er ist kein Milchkalb. Er ist ein Bulle, der kommende Mann, ein Sieger.
Nach einem tiefen Atemzug lässt Shane im Bungalow-Büro von Michael Deane Productions den Blick von Claire Silver zu Michael Deane und wieder zurück wandern und sammelt seinen ganzen mametbeseelten Mut zusammen. »Ich bin hierhergekommen, um einen Film zu pitchen. Und ich übersetze kein Wort mehr, solange Sie mich nicht angehört haben.«
6
Höhlenmalerei
April 1962
Porto Vergogna, Italien
W ie die Wimpel an einer Hochzeitstorte war der schmale Steig in die Klippenwand gestanzt und zog sich in zickzackförmigen Serpentinen über den Fels hinter dem Dorf. Vorsichtig schritt Pasquale auf dem alten Ziegenpfad dahin und schaute sich immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass Dee noch hinter ihm war. Zum Gipfel hin war der Steig von den schweren Regenfällen des Winters ausgewaschen worden, und Pasquale
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