Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
ausgeschaltet und füllen nun ihre Einkaufswagen. Bald ist Weihnachten, dann ein guter Rutsch ins neue Jahr, Jahrhundert, Jahrtausend. Es wird ein langer Fernsehabend werden, und sie haben sich noch nichts zum Naschen besorgt.

Schönhauser Allee im Regen
    Ab und zu regnet es auf der Schönhauser Allee. Ein Unwetter bringt das Geschäftsleben in Schwung. Die Fußgänger verlassen die Straßen und flüchten in alle möglichen Läden rein. Dort entdecken sie Dinge, die sie sich bei Sonnenschein nie ankucken würden, und kaufen Sachen, die sie eigentlich überhaupt nicht brauchen, zum Beispiel Regenschirme. Wenn der Regen aufhört, ist die Luft wunderbar frisch, es riecht nach Benzin und den wasserfesten Farben der Fassaden. In jedem Mülleimer steckt dann ein Regenschirm, und überall sind große Pfützen zu sehen. Meine Tochter Nicole und ich gehen oft nach dem Regen spazieren. Wir gehen am Optikladen vorbei. Dort kauft sich ein Araber eine Brille.
    »Kuck mal«, zeigt Nicole mit dem Finger auf ihn. »Eine Frau mit Bart!«
    »Nimm deinen Finger runter!«, zische ich, »das ist keine Frau mit Bart, das ist ein Araber, der sich eine Brille kauft.«
    »Wozu sind eigentlich Brillen gut? Für blinde Menschen?«, fragt mich meine Tochter.
    »Nein«, sage ich, »blinde Menschen brauchen keine Brille. Man kauft sie, wenn man das Gefühl hat, etwas übersehen zu haben.«
    Nicole zeigt auf die bunten Benzinstreifen, die in der Sonne blitzen. »Wäre es möglich, dass der Regenbogen vom Himmel runtergefallen ist?«
    »Korrekt«, antworte ich.
    Wir gehen weiter. Ein vietnamesisches Mädchen steht mit beiden Füßen in einer besonders tiefen Pfütze. Das Wasser reicht ihr fast zu den Knien. Sie bewegt sich nicht und kuckt traurig vor sich hin. Eine alte Frau bleibt vor ihr stehen. »Armes Mädchen! Du hast ja ganz nasse Füße«, sagt sie. »Warum gehst du nicht nach Hause und ziehst dir neue warme Socken an?«
    Die kleine Vietnamesin schweigt.
    »Hast du überhaupt andere Socken?«, fährt die alte Dame fort. »Wo wohnst du? Hast du ein Zuhause?«
    Ein Ehepaar bleibt ebenfalls bei dem Mädchen stehen, die Frau erwartet ein Baby, so sind sie auch interessiert.
    »Verstehst du eigentlich unsere Sprache?«, fragt der Mann besorgt. Das Mädchen schweigt.
    »Sie hat sich bestimmt verlaufen und kann ihre Eltern nicht finden, armes Kind«, vermutet die alte Frau.
    Eine Touristengruppe frisch aus einem Bus nähert sich dem Mädchen vorsichtig. Überwiegend ältere Menschen, die miteinander plattdeutsch reden.
    »Aber warum steht sie in einer so tiefen Pfütze?«, fragt ein Mann.
    »Das ist doch ganz klar: Sie kann unsere Sprache nicht und will auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit erregen. Sie signalisiert uns, dass sie Hilfe braucht«, erklärt die schwangere Frau.
    »Was machen wir jetzt?«, fragt die alte Dame, die als Erste das Mädchen entdeckt hat. »Wir können das Kind unmöglich allein hier stehen lassen. Am besten wir rufen die Polizei.«
    »Genau«, meint die Touristengruppe, »rufen Sie die Polizei, und wir passen inzwischen auf das Kind auf.«
    Plötzlich springt das vietnamesische Mädchen aus der Pfütze nach vorn, das schmutzige Wasser bespritzt die Passanten. Alle sind nun nass: die alte Frau, das Ehepaar, die Plattdeutschtouristen. »Reingelegt!«, ruft das Mädchen, lacht dabei diabolisch und verschwindet blitzschnell um die Ecke. Alle Betroffenen bleiben fassungslos auf der Straße stehen. Nicole und ich kennen das Mädchen, weil sie in unserem Haus wohnt. Ihre Eltern haben einen Lebensmittelladen im Erdgeschoss und geben uns manchmal Erdbeeren und Bananen umsonst.
    Und diesen Witz kennen wir auch schon. Das Mädchen macht ihn jedes Mal, wenn die großen Pfützen auf der Schönhauser Allee auftauchen und die Menschenmengen kurzzeitig verschwinden.
    Auf wunderbare Weise wird die Allee aber schnell wieder trocken und belebt, sodass dann keiner mehr auf die Idee kommt, dass es hier vor kurzem noch geregnet hat.

Integration auf der Schönhauser Allee
    Die Integration in eine fremde Kultur ist ohne Sprachkenntnisse nicht möglich, das weiß jedes Kind. Sogar mein Kind weiß es, obwohl es erst zehn Monate alt ist. Neulich zerrte es bereits ein dickes russisch-deutsches Wörterbuch aus dem Bücherregal, schlug es unter großen Anstrengungen auf, riss fünf Seiten heraus und stopfte sie sich in den Mund. Warum hat das Kind ausgerechnet ein deutsches Wörterbuch gefressen aus einem Regal, in dem hunderte russischer Bücher

Weitere Kostenlose Bücher